»Kannst du uns sonst vielleicht noch etwas sagen, das uns dabei hilft, ihren Mörder zu finden?«, fragte Englmair.
Sie überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich hatte schon nichts Greifbares in der Hand, um in den letzten drei Monaten herauszufinden, warum und wohin sie verschwunden ist. Woher soll ich also etwas wissen, was euch zu ihrem Mörder führt?«
»Hätte ja sein können«, sagte Englmair und seufzte. »Schließlich stirbt die Hoffnung zuletzt.«
Anja nickte zustimmend. Sie beneidete die beiden nicht um ihre Aufgabe. Sofern die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner nichts fanden, das einen Hinweis auf den Täter gab oder dabei half, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen, würde es schwer werden, ihm auf die Schliche zu kommen.
Sie warf – als würden ihre Augen magnetisch davon angezogen – einen Blick auf den Leichnam. Aufgrund des Lakens konnte sie nur die Konturen erkennen. Allerdings genügte das, um zu sehen, wie abgemagert die tote Frau war.
Sie stellte sich vor, welche Qualen Nadine Weinhart vor ihrem Tod hatte erdulden müssen. Die Kopfschmerzen, die ihr der Tumor bereitete, dazu die Übelkeit. Und dann auch noch der ständige Hunger, weil ihr der Täter, aus welchem Grund auch immer, nahezu jegliche Nahrung vorenthalten hatte. Denn anders wäre es nicht möglich gewesen, dass sie in drei Monaten so viel Gewicht verloren hatte.
Sie wandte den Blick ab und seufzte schwer.
Sekunden später verließen die drei Kriminalbeamten den Sezierraum.
Anja war froh, diesen ungastlichen Ort endlich hinter sich lassen zu können. In ihrer Vorstellung wirkte er düsterer und unheilvoller, als er es in Wirklichkeit war. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in diesem Gebäude zu arbeiten und jeden Tag hierherzukommen. Aber andere Leute hatten eben nicht die gleichen Probleme mit den Toten wie sie.
Vor dem Gebäude atmete sie tief die frische Luft ein. Sie fühlte sich, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden. So ähnlich musste man sich fühlen, wenn man nach Jahrzehnten aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Krieger und Englmair verabschiedeten sich von Anja. Krieger erinnerte sie in gewohnt unfreundlicher Art noch einmal an Nadine Weinharts Akte. Dann marschierten die beiden Kollegen zu ihrem Dienstwagen, den sie neben dem Institut im Halteverbot abgestellt hatten. Anja machte sich währenddessen auf den Weg zu ihrem eigenen Auto.
VII
Sie fuhr direkt zu ihrer Dienststelle. Normalerweise hätte sie jetzt die traurige und schwere Aufgabe gehabt, Nadines Mutter vom Tod ihrer Tochter zu unterrichten. Aber da Nadine allem Anschein nach das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, mussten die siamesischen Zwillinge das übernehmen. Auch darum beneidete sie die Mordermittler nicht.
Während der Fahrt hatte sie ständig das Bild der toten Frau vor Augen, sosehr sie sich auch bemühte, es zu verdrängen. Doch es schien sich in ihren Verstand eingeätzt zu haben. So wie der Anblick einer anderen Leiche vor vielen Jahren, den Anja bis heute nicht losgeworden war und der sie bis in ihre schlimmsten Albträume verfolgte.
Sie schüttelte den Kopf, denn das war ein Gedankengang, den sie partout nicht bis zu seinem schrecklichen Ende weiterverfolgen wollte. Nicht jetzt jedenfalls, wo es so viel anderes gab, über das sie nachdenken musste. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Details im Fall von Nadine Weinhart, der über Nacht von einem Vermissten- zu einem Mordfall geworden war.
Krieger hatte völlig recht. Es war nicht mehr ihr Fall. Eigentlich könnte sie alles, was damit zusammenhing, guten Gewissens in ihren geistigen Aktenvernichter stecken und vergessen. So wie sie später auch die Akte an die Kollegen von der Mordkommission übergeben würde, nachdem sie den Vermisstenfall aufgrund des Todes der Vermissten für erledigt erklärt hatte. Erst dann wäre er für sie offiziell abgeschlossen. Dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht daran hindern, sich mit den skurrilen Aspekten des Falles zu beschäftigen. Und es war immer noch besser, über derartige Dinge nachzudenken, als ständig das Bild der abgemagerten, von dunklen Beulen übersäten Leiche vor Augen zu haben.
Was Anja dabei am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass Nadine nach Aussage des Rechtsmediziners vor weniger als zwölf Stunden gestorben war. Die Person, die sie aller Voraussicht nach entführt und drei Monate lang gefangen gehalten hatte, hatte sie aus Gründen, die sie nicht kannten, die ganze Zeit über am Leben erhalten. Allerdings hatte sie ihr kaum zu essen, sondern nur zu trinken gegeben, damit sie so stark abmagerte.
Warum?
Seitdem sie wusste, dass es sich bei dem Opfer tatsächlich um die vermisste Nadine Weinhart handelte, hatte Anja das Gefühl, versagt und die Frau im Stich gelassen zu haben. Wäre sie schon unmittelbar oder kurze Zeit nach ihrer Entführung gestorben, hätte Anja es ohnehin nicht verhindern können. Aber stattdessen hatte der Täter sie drei lange Monate in seiner Gewalt gehabt und gequält. Das war mehr als genug Zeit, um eine vermisste Person aufzuspüren. Gleichwohl hatte sie sie nicht geschafft.
Anja versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass es von vornherein keine einzige Spur und keinen Anhaltspunkt gegeben hatte, denen sie hätte nachgehen können. Der Täter war zu schlau gewesen und hatte nicht den geringsten Fehler gemacht; das tröstete sie jedoch nicht wirklich. Sie hatte schlicht und einfach ihren Job nicht gut genug gemacht. Sie hätte tiefer graben und gründlicher ermitteln müssen, um wenigstens irgendetwas herauszufinden.
Sie lenkte ihren Wagen automatisch durch den Verkehr. Dabei ging sie in Gedanken noch einmal akribisch Punkt für Punkt durch, was seit Nadine Weinharts Verschwinden geschehen und in die Wege geleitet worden war. Vielleicht fiel ihr ja dann ein, wo sie einen Fehler gemacht oder welche notwendige Maßnahme sie irrtümlicherweise unterlassen hatte. Und falls sie nichts entdeckte, sondern im Gegenteil zur Überzeugung kam, dass sie alles richtig gemacht hatte, dann musste sie sich auch nichts vorwerfen.
I
Am Tag nach dem letzten Telefonat mit ihrer Tochter bekam Mona Weinhart am späten Vormittag einen Anruf aus dem Klinikum Großhadern. Eine Kollegin von Nadine erkundigte sich nach ihrer Tochter. Diese war in der Früh nicht zur Arbeit erschienen und auch telefonisch nicht zu erreichen.
Als sie auflegte, war es 11:22 Uhr.
Das wusste Mona deshalb so genau, weil sie in diesem Augenblick auf die Uhr sah. Und außerdem war es exakt der Moment, an dem die 61-Jährige begann, sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter zu machen. Denn ein derartiges Verhalten war absolut untypisch für Nadine. Wenn es einen vernünftigen Grund gegeben hätte, nicht zur Arbeit zu erscheinen, und wenn Nadine die Möglichkeit gehabt hätte, jemandem darüber zu informieren, dann hätte sie das auch getan. Da sie es allerdings versäumt hatte, musste ihr etwas zugestoßen sein. Das war nur logisch. Und davon war die Mutter überzeugt.
Sie dachte natürlich sofort an die schlimmen Kopfschmerzen und die Übelkeit, unter denen Nadine in den letzten Wochen permanent gelitten hatte. Zuletzt hatte sie ihre Mutter beruhigt und behauptet, die Schmerztabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, würden helfen. Doch Mona Weinhart kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Deshalb hatte sie sofort das schreckliche Bild vor Augen, wie ihre Tochter hilflos oder – Gott bewahre! – sogar tot in ihrer Wohnung lag.
Mona war kein sehr gläubiger Mensch. Franz, ihr verstorbener Ehemann, war überzeugter Atheist gewesen. Daher hatte Religion in ihrer Familie oder bei Nadines Erziehung nie eine Rolle gespielt. Aber Mona war in einem winzigen niederbayerischen Dorf aufgewachsen. Dort war ihr der katholische Glaube von klein auf eingetrichtert worden und war nicht auszurotten. Er hob vor allem in Notsituationen sein dornengekröntes Haupt, sodass Mona gelegentlich im Stillen ein Bittgebet sprach. Das tat sie auch jetzt. Sie bat Gott inständig darum, dafür zu sorgen, dass es ihrem einzigen Kind gutgehen und es sich baldmöglichst bei ihr melden möge.
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