Anja richtete sich auf. Sie sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Ich habe keinen Zweifel, dass es sich bei der Toten um die vermisste Nadine Weinhart handelt.« Damit war es offiziell.
»Gut, das reicht uns für den Augenblick«, sagte er. »Hundertprozentige Gewissheit bekommen wir ohnehin erst nach dem Abgleich der Fingerabdrücke, des Zahnstadiums und der DNA. Aber jetzt können wir unsere Ermittlungen wenigstens auf eine konkrete Person konzentrieren.«
»Erzählt ihr mir jetzt endlich, wo sie gefunden wurde?«
»Wieso willst du das überhaupt wissen?«, fragte Krieger. »Sei froh, dass der Fall für dich erledigt ist und du die Akte vom Tisch hast. Apropos Akte! Wäre schön, wenn du uns die Vermisstenakte noch heute ins Büro bringen könntest.«
»Es interessiert mich einfach, was mit ihr geschehen ist«, sagte Anja. »Immerhin habe ich mich in den letzten drei Monaten intensiv mit ihrem Fall beschäftigt. Außerdem ging mir ihr Schicksal nahe. Aber das kann ein gefühlloser Klotz wie du natürlich nicht verstehen.«
»Ich bin nicht gefühllos«, widersprach er und machte ein empörtes Gesicht. »Komm schon, Peter! Sag ihr, dass ich nicht gefühllos bin!«
»Anton ist nicht gefühllos«, sagte Englmair gehorsam. Nach einer kurzen Pause fügte er einschränkend hinzu: »Zumindest nicht ganz. Er ist aber auch nicht besonders gefühlvoll oder mitfühlend.«
»Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.« Krieger verzog missmutig das Gesicht und verschränkte die Unterarme vor der Brust, als wäre er tödlich beleidigt. Man konnte jedoch sehen, dass er es nur vorgab und nicht böse auf seinen Kollegen war, denn seine Augen funkelten belustigt.
»Dann eben gefühlsarm«, korrigierte sich Anja.
Krieger bewegte den Kopf abwägend hin und her, als könnte er mit dieser Charakterisierung leben.
Anja wusste nicht viel über das Privatleben der beiden. Allerdings hätten sie auch da nicht unterschiedlicher sein können. Krieger war ein eiserner Verfechter der Ehe und mittlerweile schon zum dritten Mal verheiratet. Englmair hingegen hielt nicht viel von einem Trauschein, lebte allerdings seit mehr als zwei Jahrzehnten mit ein und derselben Frau zusammen. Er war kinderlos, während Krieger mit seinen ersten beiden Ehefrauen drei Kinder gezeugt hatte. Also war er vermutlich tatsächlich nicht völlig gefühllos, sondern gebärdete sich im Dienst nur so. Vermutlich war das nichts anderes als ein Schutzmechanismus. Manche Polizisten benötigten einen solchen, den sie wie eine Panzerung trugen, um weiterhin ihre Arbeit erledigen zu können und nicht resigniert das Handtuch zu werfen.
»Also, wo wurde Nadine gefunden?«
»Am Wurmeck«, sagte Krieger und fügte zweifelnd hinzu: »Wenn du weißt, wo das ist?«
»Natürlich weiß ich das«, antwortete Anja gereizt. Sie war ein Münchner Kindl . So hieß nicht nur die offizielle Wappenfigur der bayerischen Landeshauptstadt, ein Mönch mit goldgeränderter schwarzer Kutte und roten Schuhen. So wurde auch jeder genannt, der in München geboren war.
»Als Wurmeck wird der südwestliche neugotische Eckturm des Neuen Rathauses bezeichnet, da sich dort die Kupferfigur eines Drachen oder Lindwurms emporwindet« sagte Anja, als rezitierte sie aus einem Reiseführer. »Darüber befinden sich drei Steinreliefs, die die Sage vom Münchener Lindwurm veranschaulichen. Demnach soll im Jahre 1517 in der Stadtmitte ein Lindwurm aus der Erde gekrochen sein und die Pest verbreitet haben. Er wurde von mutigen Männern mit einem Kanonenschuss besiegt. Dennoch trauten sich die Bürger nicht mehr aus ihren Häusern. Bis erstmals die Schäffler, wie die Fassküfer oder Fasshersteller in Bayern auch genannt wurden, durch die Straßen tanzten. Sie wollten die Bevölkerung damit beruhigen und dazu bringen, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Daran soll bis heute der traditionelle Schäfflertanz erinnern, der alle sieben Jahre aufgeführt wird.«
Anja kannte die Details aufgrund einiger Stadtführungen. Sie hatte zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Münchner Kriminalpolizei daran teilgenommen, um ihren zukünftigen Einsatzort noch besser kennenzulernen.
Allerdings wusste sie auch, dass es sich dabei vermutlich um eine verfälschte Herkunftssage des Schäfflertanzes handelte. Denn obwohl München zur damaligen Zeit nachweislich mehrere Male von der Pest heimgesucht worden war, wurde dennoch bezweifelt, dass es 1517 ebenfalls eine Pestepidemie in der Stadt gegeben hatte. In den Sterberegistern für dieses Jahr waren jedenfalls keine auffälligen Sterberaten verzeichnet. Außerdem wurde der Schäfflertanz erstmals im 17. Jahrhundert als Zunftbrauch nachgewiesen. Von all dem sagte sie jedoch nichts, da es für die Ermittlungen keine Rolle spielte.
Englmair nickte anerkennend. Sogar Krieger schien von ihrem Wissen beeindruckt zu sein. Er starrte sie mit offenem Mund an und war ausnahmsweise sprachlos, wofür Anja dankbar war.
»Also ist der Fundort neben den Beulen ein weiterer Bezug auf die Pest«, sprach sie das Offensichtliche aus. Seitdem sie bestätigt hatte, dass es sich bei dem Leichnam aller Voraussicht nach um die vermisste Nadine Weinhart handelte, vermied sie es, die tote Frau noch einmal anzusehen. Außerdem hatte sie den Abstand zwischen ihnen automatisch wieder vergrößert, indem sie zwei Schritte zurückgewichen war.
»Das Thema scheint für den Mörder demnach eine wichtige Rolle zu spielen«, sagte Englmair. »Warum auch immer?«
Obwohl sie noch immer nicht wussten, wie Nadine Weinhart gestorben war, gingen sie alle insgeheim davon aus, dass es sich um Mord handelte. Andernfalls hätte der Täter ihre Leiche gewiss nicht mit den scheußlichen »Pestbeulen« verunstaltet und ihre Leiche an einem Ort wie dem Wurmeck abgelegt, als wollte er sie öffentlich zur Schau stellen.
Anja fielen spontan zwei weitere Stellen ein, die mit der Pest in Verbindung standen.
So gibt es an der Rathausfassade in Traufhöhe den Wasserspeier einer Megäre, eine Rachegöttin der griechischen Mythologie. Unter ihrem Mantel kriecht ein Geschöpf hervor, das die Pest symbolisieren soll. Neben ihr ein Arzt, ein Schäffler und ein Musikant als Bekämpfer der Seuche.
Außerdem befinden sich auf dem Sockel der Mariensäule vor dem Rathaus vier bronzene Putti. Das sind geflügelte Kinderengel. Sie kämpfen gegen vier in Tiergestalt dargestellte Menschheitsplagen. Dabei symbolisiert der Löwe den Krieg, der Drache den Hunger, die Schlange den Unglauben und der Basilisk, ein mythisches Tier, wiederum die Pest.
»Die Leiche wurde also nicht zufällig, sondern mit voller Absicht am Wurmeck abgelegt«, sagte Anja. »Der Täter will mit dem Fundort und diesen …« Sie deutete mit der Hand vage in Richtung Leiche, ohne sie anzusehen. »… Beulen vermutlich etwas mitteilen. Fragt sich nur, was?«
Sie bemerkte die Blicke, mit denen die beiden Kollegen sie ansahen und fragte: »Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur …« Er verstummte und seufzte. »Die Leiche wurde nicht einfach nur abgelegt.«
»Sondern?«
»Komm her! Ich zeig’s dir.« Englmair nahm eine Klarsichthülle, die Anja erst jetzt bemerkte, von einer Ablage aus leicht zu reinigendem Edelstahl. Sie schien mehrere großformatige Fotos zu enthalten.
Sie ging mit großem Abstand um den Seziertisch herum und trat neben ihn. »Vielleicht könntest du inzwischen die Leiche zudecken«, sagte sie zu Krieger, ohne ihn dabei anzusehen. »Muss ja nicht sein, dass sie die ganze Zeit so entblößt daliegt.«
Krieger zuckte mit den Schultern. Er tat jedoch, was sie gesagt hatte, ohne zu murren oder es mit einem anzüglichen Spruch zu kommentieren.
»Das sind die Tatortfotos, die wir vom kriminaltechnischen Fotografen bekommen haben.« Englmair reichte ihr den Stapel, den er aus der Klarsichthülle geholt hatte.
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