»Wissen Sie schon von dem Tattoo über Nadines linkem Außenknöchel?«, fragte Anne unvermittelt und riss Anja damit aus ihren Überlegungen. »Es zeigt einen Marienkäfer.«
Anja nickte. »Nadines Mutter hat die Tätowierung bereits dem Polizisten gegenüber angegeben. Als er die Vermisstenanzeige entgegennahm, fragte er sie nach unverwechselbaren Kennzeichen.«
»Ich kann Ihnen ein Foto davon zeigen. Nadine schickte es mir aufs Handy, nachdem sie sich das Tattoo hatte stechen lassen.« Anne holte ihr Smartphone und zeigte Anja die Aufnahme. Sie prägte sich die Tätowierung ein. Allerdings verzichtete sie darauf, dass Anne ihr die Datei zuschickte, da es sich um ein einfaches Motiv handelte, das man sich leicht merken konnte.
Das Geschrei aus dem oberen Stockwerk wurde abrupt lauter. Anja hatte sich tatsächlich daran gewöhnt und es nur noch als stetes Hintergrundgeräusch wahrgenommen. Jetzt wurde sie wieder darauf aufmerksam.
Anne hob erneut den Kopf und warf einen Blick zur Decke. Als eins der Kinder zu heulen anfing, nickte sie, als hätte sie vorausgeahnt, dass es diesmal Tränen geben würde.
»Wenn Sie noch weitere Fragen an mich haben, gehe ich kurz zu den kleinen Monstern nach oben und sorge dafür, dass wieder Frieden zwischen ihnen herrscht.«
Aber Anja hatte genug gehört. »Falls ich noch etwas von Ihnen wissen möchte, rufe ich Sie an. Und falls Ihnen etwas einfällt, kontaktieren Sie mich bitte.« Sie gab der alleinerziehenden Mutter ihre Karte, bevor sie sich verabschiedete und das Haus verließ. Erst draußen fiel ihr auf, wie laut es gewesen war, denn ihr dröhnten noch immer die Ohren. Sie fragte sich, ob die Nachbarn in der anderen Doppelhaushälfte taub waren. Stampfende Schritte waren zu hören, als Anne Schmelzer die Treppe nach oben stürmte, um wie eine Einmann-Blauhelm-Truppe zwischen ihren kleinen Monstern zu intervenieren und Frieden zu stiften. Das Weinen verstummte kurz danach. Das Lärmen der anderen Kinder ging allerdings weiter, als störte sie die Gegenwart der Mutter nicht besonders.
Anja zuckte mit den Schultern. Sie beglückwünschte sich, dass sie noch keine Kinder hatte, da sie dann mittlerweile ebenfalls alleinerziehend wäre.
Sie setzte sich in ihren Wagen und fuhr ins Büro. Von dort rief sie bei den Kriminaltechnikern an und bat darum, in Nadine Weinharts Wohnung Fingerabdrücke zu nehmen und ihren Wagen zu durchsuchen. Den Schlüsselring, den sie von Nadines Mutter bekommen hatte, schickte sie per Boten ins Polizeipräsidium in der Ettstraße, wo die Büros der Kriminaltechnik lagen.
Anschließend sorgte Anja dafür, dass Nadines Bankkonten überwacht wurden und sie Auskunft über die letzten Kontobewegungen erhielt. Einer der Kollegen, die für die Telekommunikationsüberwachung zuständig waren, rief an. Er teilte ihr mit, dass eine Ortung des Handys der Vermissten fehlgeschlagen sei. Seit Nadines Verschwinden waren auch keine Gespräche mehr geführt worden.
Nachdem sie aufgelegt hatte, widmete sich Anja den Dingen, die sie aus Nadines Wohnung mitgebracht hatte. Sie ließ die Beweismittelbeutel mit der Haarbürste, der Zahnbürste und den Ohrenstäbchen abholen und ins kriminaltechnische Labor bringen. Dann widmete sie sich dem Adressbuch, den aktuellen Unterlagen und den Briefen. Sie rief die Personen an, die im Adressbuch aufgeführt waren. Bei ihnen handelte es sich vorwiegend um weitläufige Verwandte, Bekannte und ehemalige sowie aktuelle Arbeitskollegen. Aber niemand, mit dem sie sprach, wusste, wo Nadine steckte, oder hatte sie in letzter Zeit gesehen. Ein Johannes befand sich nicht darunter. Es gab auch keinen Eintrag unter der Initiale J. , sosehr Anja auch danach suchte. Allerdings fand sie die Nummer von Nadines Zahnarzt und bat ihn darum, ihr ein Zahnschema seiner Patientin zu schicken. Er willigte erst ein, nachdem Anja versprochen hatte, jemanden vorbeizuschicken, der das Zahnschema abholte und sich als Polizist auswies. Nach dem Gespräch mit dem Zahnarzt sorgte Anja dafür, dass eine Streifenwagenbesatzung das Zahnschema abholte und in ihre Dienststelle brachte. Sie setzte sich sogar mit den Absendern der Briefe in Verbindung. Doch auch das führte zu nichts. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen Fahndungsmaßnahmen, die sie in die Wege geleitet hatte, erfolgreicher waren.
Aber auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
Selbst als nach dem Scheitern aller anderen Maßnahmen in der Öffentlichkeit nach Nadine gesucht wurde, meldete sich niemand, der sie gesehen hatte. Sie blieb verschwunden, ohne eine einzige Spur hinterlassen zu haben, der Anja folgen konnte, um sie zu finden.
Und nachdem sie sämtliche Fahndungsmaßnahmen ergriffen oder eingeleitet hatte, diese aber allesamt erfolglos geblieben waren, kam schließlich der Zeitpunkt, an dem Anja überhaupt nichts mehr tun konnte. Sie war allen Anhaltspunkten nachgegangen und hatte alles überprüft, was man überprüfen konnte. Der Fall war praktisch ausermittelt. Außerdem gab es ständig neue Fälle, die auf ihrem Schreibtisch landeten und ihre Aufmerksamkeit erforderten.
Und so wanderte die Akte auf den Stapel mit den Altfällen. Dort ruhte er, bis es irgendwann eine neue Spur oder einen neuen Hinweis gab, denen man nachgehen konnte. Oder bis eine Leiche auftauchte, die Nadine Weinharts Personenbeschreibung entsprach.
Und genau das geschah dann auch.
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