Sie versiegelte den Kellerraum und kehrte in die Wohnung zurück. Dort packte sie alles, was sie mitnehmen wollte, in eine Plastiktüte aus dem Küchenschrank. Dann verließ sie die Wohnung, versah die Wohnungstür ebenfalls mit einem Polizeisiegel und brachte die Tüte zum Auto.
Danach klingelte sie bei der Wohnungsnachbarin und zeigte der alten Frau ihren Dienstausweis. Deren misstrauische Miene machte daraufhin einem freundlichen Lächeln Platz. Frau Spitzeder lud Anja ein, in die Wohnung zu kommen und mit ihr Kaffee zu trinken und Käsekuchen zu essen. Doch dafür hatte sie keine Zeit. Deshalb lehnte sie das Angebot freundlich, aber bestimmt ab. Sie stellte der alten Dame ein paar Fragen über Nadine und den Tag ihres Verschwindens. Doch mehr als das, was sie bereits von Nadines Mutter erfahren hatte, kam dabei nicht heraus. Daher schlug sie eine weitere Einladung aus und verabschiedete sich rasch. Sie klingelte an den Türen der anderen Hausbewohner, hatte dort allerdings weniger Glück. Um die Leute vor Ort anzutreffen, musste sie zu einer anderen Tageszeit noch einmal vorbeikommen.
Da sie in der Wohnung keinen Ersatzschlüssel für Nadines Wagen gefunden hatte, musste sie die Durchsuchung des Kofferraums den Kollegen von der Kriminaltechnik überlassen.
Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Allerdings wollte sie nicht sofort zurück ins Büro, sondern vorher noch mit Nadines bester Freundin und den Kollegen im Klinikum sprechen.
VII
Da das Klinikum näher lag, lenkte sie den Wagen zunächst dorthin. Sie fuhr zum Haupteingang des Komplexes und parkte auf einem der Kurzzeitparkplätze. Dann ging sie zum Empfang, wies sich aus und erkundigte sich nach der Abteilung, in der Nadine arbeitete. Die freundliche Empfangsdame gab Nadines Namen in den Computer ein und teilte Anja mit, dass sie in der Privatstation im Direktionstrakt des Klinikgebäudes arbeite. Sie beschrieb der Polizistin den Weg, worauf Anja sich bedankte und verabschiedete.
Anja folgte der Wegbeschreibung. Sie begegnete Besuchern, Personal und Patienten im Bademantel. Letztere saßen teilweise im Rollstuhl oder schoben ihre Infusionsständer vor sich her. In der Privatstation suchte sie nach dem Schwesternzimmer. Dort stellte sie sich den diensthabenden Schwestern und Pflegern vor. Um Zeit zu sparen und Nadines Kollegen nicht allzu lange von der Arbeit abzuhalten, befragte sie alle gemeinsam. Doch niemand konnte sich Nadines Verschwinden erklären. Und von den körperlichen Beschwerden ihrer Kollegin erfuhren sie erst jetzt. Anscheinend hatte Nadine ein Geheimnis daraus gemacht und sich deshalb auch nicht hier im Haus untersuchen und behandeln lassen. Das wäre unkomplizierter gewesen. Allerdings hätte dann vermutlich in kürzester Zeit jeder davon gewusst.
Schon nach wenigen Minuten verließ Anja die Abteilung wieder, sodass die Versorgung der einträglichen Privatpatienten nicht länger beeinträchtigt war. Sie hatte nichts Neues erfahren. Aber das war bei ihren Ermittlungen oft der Fall. Viele Maßnahmen und Befragungen erwiesen sich im Nachhinein als überflüssig und gingen ins Leere. Doch das wusste man vorher leider nicht.
Sobald sie in ihrem Wagen saß, suchte sie in ihrem Notizbuch nach Anne Schmelzers Nummer. Nadines beste Freundin wohnte ebenfalls in der Nähe. Ein Besuch bei ihr war weder ein großer Zeitverlust noch ein Umweg. Bei Angehörigen und guten Freunden der Vermissten zog Anja das persönliche Gespräch einem Telefonat vor. In derartigen Fällen sah sie ihren Gesprächspartner lieber vor sich, um sich anhand seines Verhaltens, seiner Mimik und seiner Gestik ein besseres Bild von ihm machen zu können.
Anne war zu Hause. Sie war sofort einverstanden, dass Anja vorbeikam, um ihr ein paar Fragen zu stellen.
Die Schmelzers bewohnten die linke Hälfte eines zweistöckigen Doppelhauses. Im Vorgarten lagen so viele Bobby-Cars, Roller und Kinderfahrräder, dass man den Eindruck gewinnen konnte, eine ganze Horde von Kindern würde hier leben. Doch auf dem ovalen Namensschild aus Keramik neben der Tür standen neben dem Familiennamen und dem Vornamen der Mutter lediglich vier weitere Namen. Einer war allerdings wie eine schmerzhafte Wunde mit zwei Heftpflastern kreuzförmig überklebt worden, sodass man ihn nicht mehr lesen konnte.
Anne Schmelzer öffnete unmittelbar nach dem Klingeln, als hätte sie wie eine Falltürspinne hinter der Haustür auf Beute gelauert. Sie warf nur einen kurzen desinteressierten Blick auf Anjas Dienstausweis. Anja hoffte, dass sie nicht immer so vertrauensselig war. Dann begrüßte sie die Kriminalbeamtin herzlich, als wären sie alte Bekannte, und bat sie herein. Die Frau war anderthalb Köpfe kleiner als Anja und übergewichtig. Sie hatte langes rotblondes Haar, unzählige Sommersprossen und hellgrüne Augen, was sie in Anjas Augen wie ein frecher, dicker Kobold aussehen ließ, und trug eine Brille mit rotem Gestell.
Anne führte die Polizistin ins Wohnzimmer. Sie nahmen an einer Eckbank Platz, an der die Familie vermutlich ihre Mahlzeiten einnahm. Von den Kindern war außer zahlreichen Fotos an den Wänden, auf den Regalen und in den Fächern der Schrankwand nichts zu sehen. Allerdings waren sie nicht zu überhören. Aus dem Obergeschoss kamen kreischende Kinderstimmen. Sie wurden gelegentlich von Protest- oder Wehgeschrei unterbrochen. Außerdem war ständig das Trampeln von Füßen zu hören, sodass man das Gefühl bekommen konnte, eine Büffelherde durchquerte das obere Stockwerk auf dem Weg zur nächsten Wasserstelle.
Nadines beste Freundin richtete einen vielsagenden Blick zur Decke. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Anja solle den Lärm einfach ignorieren, sagte sie und fügte hinzu, dass sie selbst ihn kaum noch höre. Sie fragte Anja, ob sie ihr eine Tasse Kaffee oder Tee und ein paar Kekse anbieten könne, doch Anja lehnte ab. Sie wollte rasch zum Wesentlichen kommen, weil sie noch viel zu erledigen hatte.
Sie stellte Anne die üblichen Fragen über ihre Freundin und den Tag ihres Verschwindens. Anne hatte ebenfalls nicht gewusst, wie schwerwiegend Nadines Beschwerden in Wahrheit waren. Auch die Besuche beim Neurologen und in der radiologischen Praxis einschließlich des niederschmetternden Befunds hatte Nadine ihr verschwiegen. Stattdessen hatte sie die Sache heruntergespielt und behauptet, es ginge ihr schon wieder besser.
»Hat es in letzter Zeit einen Mann in Nadines Leben gegeben?«, fragte Anja. »Einen Arbeitskollegen vielleicht? Oder jemanden, den sie woanders kennengelernt hatte?«
Von oben kam ein lautes Krachen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Anne richtete ihren Blick zur Decke. Sie wartete und lauschte. Als keine Schmerzensschreie folgten, entspannte sie sich wieder.
Anja hätte nie so ruhig bleiben können, sondern nachsehen müssen, ob noch alle Kinder am Leben waren. Aber vermutlich bekam man bei drei derartigen Rabauken mit der Zeit die nötige Gelassenheit. Oder man erlitt früher oder später einen Nervenzusammenbruch und landete in der Irrenanstalt.
»Bei unserem letzten Telefonat erzählte Nadine von einem Kerl, den sie kennengelernt hatte und nett fand«, berichtete Anne. »Allerdings hat sie mir nur seinen Vornamen verraten. Er lautete Johannes. Ansonsten hüllte sie sich in Schweigen. Anschließend beendete Nadine das Gespräch ohnehin rasch, weil sie einen Anruf ihrer Mutter erwartete.«
»Wann haben Sie und Nadine miteinander gesprochen?«
Nachdem Anne ihr die ungefähre Zeit genannt hatte, fiel Anja nach einem Blick auf ihre Notizen auf, dass Nadine schon vor diesem Telefonat mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Das kam ihr merkwürdig vor. Warum hatte Nadine ihre beste Freundin belogen? Vermutlich hatte sie das Gespräch beenden wollen, ohne unhöflich zu sein. Aber wieso? Hatte sie sich nicht länger von Anne löchern lassen wollen, die mehr über den mysteriösen Johannes hatte wissen wollen? Oder hatte sie an jenem Abend noch etwas vorgehabt? Eine Verabredung mit einem Mann möglicherweise?
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