Doch die Rauschgiftfahndung, bei der Dombrowski seit vielen Jahren arbeitet, kennt oft kein Wochenende oder einen Feierabend. Stattdessen orientiert man sich an seinen „Kunden“. Warten bis sie in den frühen Nachmittagsstunden aus ihrer Lethargie erwachen und dann eng dranbleiben, wenn sie ihrem illegalen Handel nachgehen.
Der Vormittag ist vollgestopft mit langatmigen Besprechungen, dem Anhören von aufgezeichneten Telefongesprächen und der ausführlichen Berichterstattung für die Staatsanwaltschaft, um Durchsuchungsbeschlüsse für Wohnungen oder Haftbefehle für die verfolgten Drogenhändler zu erlangen.
Und dann noch solch ein leidiger Termin wie er ihm jetzt bevorsteht. Langsam senkt sich sein Blick und Dombrowski schaut auf das Ende der Rolltreppe. Er macht einen großen Schritt und geht mit gemäßigtem Tempo in Richtung des Sievekingplatzes, von dem auch die Holstenglacis abgeht.
Direkt am prachtvollen Strafjustizgebäude befinden sich auch die in die Jahre gekommenen grauen, vergitterten Trakte der Untersuchungshaftanstalt. Hier tummeln sich in ihren Einzelzellen die Straftäter, die wegen Flucht- oder Verdunklungsgefahr im Gefängnis auf ihr Strafverfahren warten. Aber auch Kleinstkriminelle, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen müssen, weil sie die erlassenen Geldstrafen nicht bezahlen können.
Dombrowski geht am Gebäude entlang, bis er zu einem grauen Metallzaun gelangt, durch dessen geöffnete Tür er hindurchgeht.
Nach mehreren Stufen bleibt er vor der schweren Metalltür mit einem schlichten weißen Klingelknopf daneben stehen. Dombrowski klingelt und wartet dort wie vor einem verruchten Nachtclub. Das surrende Brummen erklingt, während sich die Stahltür ermüdend langsam nach innen öffnet. Dombrowski tritt in den Vorraum. Dort bleibt er vor einer Glastür stehen. Er atmet dabei den Geruch abgestandener Luft ein. Langsam schwingt die Metalltür wieder zu. Sie verschließt sich hinter ihm. Er zieht aus der Jackentasche seinen Dienstausweis, den er gegen die Scheibe der Glastür hält. Die Justizbeamten, die hinter der Tür in einem sicheren Glaskasten sitzen, nicken ihm freundlich zu. Sie öffnen die Tür per Knopfdruck, nachdem die schwere Eingangstür wieder komplett verschlossen ist. Dombrowski geht an dem Glaskasten vorbei durch eine weitere Tür, die ihm mit einem dumpfen Brummen geöffnet wird, um in den Glaskasten der Justizbeamten zu gelangen. Dort verschließt er sein Handy und die Dienstwaffe in einem kleinen Holzfach. Er legt im Anschluss den Dienstausweis vor, damit er in die Gästeliste eingetragen werden kann. «Ich bin hier für Faruk Simsek.»
Während der Justizbeamte in dem Computer mühevoll mittels Einfinger-Suchsystem den Nachnamen eingibt, blickt Dombrowski durch die grau gestrichenen Gänge des Traktes. Sie lassen den Besuch für die Verwandten und Bekannten der Insassen sicherlich noch trostloser und entmutigender erscheinen.
«Gut, Herr Dombrowski. Viel Spaß. Sie werden bereits sehnlichst erwartet», teilt der Justizbeamte mit und reicht Dombrowski den Dienstausweis zurück.
«Das habe ich befürchtet», erwidert Dombrowski «Bis nachher.»
Dombrowski geht über eine kurze Steintreppe in den Warteraum des Besucherzentrums. Die Gummisohlen seiner Turnschuhe quietschen auf dem frisch gewischten Boden. Mehrere Stuhlreihen sind im Wartebereich aufgebaut. Vereinzelt sitzen dort Frauen, zum Teil voll verschleiert, zum Teil aufgedonnert, als würden sie direkt im Anschluss feiern gehen und dabei der Männerwelt den Kopf verdrehen wollen.
In der hintersten Ecke sitzt die junge Frau, die unbedingt noch heute einen Besuchstermin haben wollte, weil sie dann ins Krankenhaus muss. Vorher wollte sie unbedingt noch einmal ihren Geliebten sehen. Sie konnte nicht sagen, wann sie wieder dazu in der Lage sein wird, ihn zu besuchen.
Mitgefühl machte sich bei ihrem Anruf im Herzen von Dombrowski breit und ließ ihn erweichen. Wer weiß, welch ein Leiden sie plagt, so kam er ihr entgegen und vereinbarte widerwillig für heute diesen Besuchstermin.
Sie trägt ein knappes Shirt mit Spaghettiträgern und eine weite, dunkle Jogginghose. Dazwischen drücken sich Bauch und Taille wulstig heraus. In den Ohrläppchen hängen bierdeckelgroße, goldene Ringe, die auf ihren schmalen Schultern aufliegen. Ihre ausgetretenen Turnschuhe hat sie nicht richtig zugebunden und so zieht sie die offenen Schnürsenkel mit jedem Schritt über den Boden, während sie auf Dombrowski zugeht.
«Moin, moin Frau Schulze, dann wollen wir mal. Sie kennen ja die Regeln. Keine Gespräche über das Verfahren. Keine Berührung, ansonsten muss ich leider direkt wieder abbrechen», erklärt Dombrowski freundlich, aber bestimmt gegenüber der unschuldig dreinschauenden jungen Frau.
Er versucht, sich seinen Groll nicht anmerken zu lassen, den er hegt, seitdem sie ihre Aussage gegen Cemal Sarikaya zurückgezogen hat. Dabei war diese ausschlaggebend, um ihn als Kopf der vor einigen Monaten festgenommenen Bande hinter Gitter bringen zu können. Inzwischen ist er gegen eine ansehnliche Kaution wieder auf freiem Fuß. Sein Anwalt hat dem gnädigen Haftrichter aufgezeigt, dass sich sein Mandant von der Betäubungsmittelszene abgewandt habe und ein gut laufendes Café in Harburg betreiben würde. Die als unglaubwürdig einzuschätzende Zeugin ließe zudem Zweifel am dringenden Tatverdacht aufkommen und bevor Dombrowski davon Wind bekam, war der Haftbefehl gegen Cemal auch bereits aufgehoben.
Charleen Schulze ist jedoch nicht wegen Cemal hierhergekommen, sondern wegen ihrer großen Liebe Faruk. Er sitzt auch weiterhin in Untersuchungshaft, nachdem er im letzten Herbst in einem Auto voller Marihuana und Kokain festgenommen wurde. Da half es ihm auch nicht, dass er inzwischen bei seiner Freundin amtlich gemeldet ist und sie ihm somit zu einem festen Wohnsitz verholfen hat.
Dombrowski und Charleen kommen an der Holztür zur Besucherzelle an. Sie wird ihnen durch einen dickbäuchigen Schließer mit langem Vollbart und Nickelbrille geöffnet.
Es ist ein kleiner, fensterloser Raum, dessen Wände weiß sind, jedoch lange nicht mehr gestrichen wurden. Je tiefer man an den Wänden herabschaut, desto mehr Verschmutzungen befinden sich an den matten Oberflächen.
Im Raum steht ein Tisch, der im Fußraum mit Holzplatten und auf der Tischfläche durch Plexiglasscheiben in der Mitte getrennt ist. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt Faruk Simsek. Seine langen, pomadigen Haare hängen ihm bis auf die Schultern. Der lange Bart ist grob gekämmt und an der Spitze verzwirbelt. Faruk sitzt breitbeinig in einem dunkelblauen Jogginganzug auf dem harten Holzstuhl und blickt geradezu durch Dombrowski hindurch zur Tür.
Dombrowski belehrt Faruk über die Regeln und lässt sich mit den letzten Worten auf einen Bürostuhl neben der Plexiglasscheibe am Kopf des Tisches fallen. Er verschränkt die Hände ineinander und blickt ein erstes Mal auf die Wanduhr, deren Sekundenzeiger quälend langsam vorwärts springt.
«Schaaatz, oh Schatz», ruft Charleen hysterisch zur Begrüßung und läuft an den Tisch heran, als würde sie durch die Scheibe hindurch springen wollen. «Schatz, ich vermisse dich so. Was machst du, wie geht es dir?», fragt sie sichtlich besorgt, wobei ihr erste Tränen in die dunkel geschminkten Augen treten. Sie rollen kurz darauf über die falschen Wimpern und fallen auf ihre mit Rouge verzierten Wangen.
«Baby, was soll ich sagen. Knast halt. Viel wichtiger: Hast du mir Geld hierein überwiesen? Morgen ist Einkauf. Dann erst wieder nächste Woche.» Faruk lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er betrachtet seine Freundin mit gleichgültigem Gesichtsausdruck. Ein Kaugummi kaut er hektisch und lässt es immer wieder zwischen seinen Zähnen aufblitzen.
«Ja, Schatz. Ich habe gerade gestern Geld vom Amt bekommen. Eigentlich sollten hundert Euro auf deinem Konto eingegangen sein. Ich habe das nicht richtig verstanden, aber dein Anwalt ist voll korrekt. Der hat das für mich gemacht. Kriegst du sonst nichts zu essen hier?», antwortet Charleen mit besorgtem Gesichtsausdruck. Sie tupft sich mit einem Papiertaschentuch kurz die Tränen von den Wangen, so dass nur die dunklen Streifen von der verflossenen Wimperntusche zurückbleiben.
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