Im vierten Obergeschoss des Hauses angekommen, legt Ernie die Sporttasche mit der Ramme auf den Boden und öffnet vorsichtig den Reißverschluss. Das Ratschen der Zähne, die auseinandergezogen werden, hallt dabei leise durch das Treppenhaus und stört die Stille, die sich nach der Ankunft auf der Etage langsam aufgebaut hat.
An der Klingel zur Wohnung steht in großen Buchstaben der Name KÖHLER. So ziemlich das einzige Klingelschild im Haus, das von einem Namen geziert wird. Obwohl in der einen oder anderen Wohnung auch Familien wohnen dürften, worauf man anhand der Anzahl und Größe der Schuhe vor den Türen schließen kann.
Ernie übergibt die schwere Ramme an Bert, der die kühlen Stahlgriffe mit beiden Händen ergreift und sich mit sicherem Stand vor der Wohnungstür aufbaut. Scotty, Kuno, Blondie und Ernie stellen sich hinter ihm auf und Scotty gibt Bert ein Zeichen, dass sie bereit sind.
Bert zielt zwei Mal mit der Ramme an, holt aus und schlägt gegen das Türblatt. Die Zarge reißt ein und wird mit dem folgenden Schlag endgültig gebrochen. An Bert laufen die anderen vier mit gezogenen Waffen vorbei in die Wohnung.
«POLIZEI! POLIZEI! STOPP, NICHT BEWEGEN!», dröhnt es in den Hausflur hinaus. Bert tritt nun auch in die Wohnung ein und folgt seinen Kollegen.
«ICH WILL DIE HÄNDE SEHEN! AUF DEN BODEN! AUF DEN BODEN!», schreit Blondie aus dem Wohnzimmer.
«Was ist denn hier los? Leute, Leute, entspannt euch mal», sagt eine erschrockene, aber dennoch ruhige Stimme aus dem Wohnzimmer.
Bert schließt die Tür zum Treppenhaus und stellt die Ramme davor auf dem Boden ab, so dass die Tür sich nicht mehr von alleine öffnet. Einen Moment später geht er zum Wohnzimmer.
Am Boden liegt ein glatzköpfiger Mann, dem durch Kuno gerade die Handschellen auf dem Rücken angelegt werden.
18
Katalonien ist eine Region, die keine Grenzen kennt. Weder in der Lebensfreude seiner Einwohner noch in den staatlichen Vorstellungen. Die Europäische Union war aus Sicht der Katalanen der erste Schritt in die richtige Richtung. Man hat neben der Sprache eine gemeinsame Währung und die Möglichkeit zwischen dem spanischen und dem französischen Teil zu pendeln, ohne die Furcht vor Grenz- oder Zollkontrollen. Auch wenn weder die Franzosen noch die Spanier Katalonien als eigenen Staat anerkennen wollen, so ist man nicht nur im Geiste vereint. Man kann sich dank der Reisefreiheit und der gemeinsamen Währung durch ganz Katalonien bewegen, als wäre es ein eigenständiger Staat.
Die Frühjahrssonne über der spanisch-französischen Grenze ist bereits kräftig. Umso mehr kann man sich darüber freuen, dass man keine langen Wartezeiten für Grenzkontrollen zu erwarten hat.
Auch für die Lasterfahrer ist die Zollunion von Europa ein wahrer Segen. Sie mussten früher an jeder Grenze viel Geduld und Zeit mitbringen. Doch heute erkennt man die Grenzen zumeist nur noch an den Begrüßungsschildern der verschiedenen europäischen Staaten, gelegentlich an ungenutzten Grenzposten.
Pawel Kaminski sitzt in dem blauen Führerhaus seines Sattelschleppers und wird gerade durch ein solches Schild auf der französischen Seite Kataloniens begrüßt.
Auch er freut sich jedes Mal, wenn er ein solches Schild sieht, denn er kennt auch noch die anderen Zeiten, als die Grenzen zu vielen Ländern noch nicht offen waren. Er musste in jedem Land immer erst einmal Geld tauschen, um sich etwas zu essen kaufen zu können.
In der Fahrerkabine läuft im steten Wechsel polnische Folklore und deutscher Schlager. Beide Musikrichtungen erfüllen ihn mit Energie und guter Laune. Gerne singt er die Lieder lauthals mit und klopft dazu auf dem Lenkrad im Takt. Dabei behält er stets den Blick konzentriert auf der Straße. Er hat schon vieles gesehen und erlebt auf Europas Straßen. Auch an Stellen, wo man keine Erklärung dafür hatte, wie es dort überhaupt zu einem Unfall kommen konnte.
Der Mensch macht Fehler vor allem am Steuer, das weiß Pawel und darum achtet er auf seinen Vordermann und hält den nötigen Abstand ein.
Gelegentlich überholt ihn ein skandinavischer Sattelzug, der zwei, drei Kilometer pro Stunde schneller unterwegs ist. Kamil selber findet diese Manöver unnötig, auch wenn er weiß, dass manche der Kollegen überholen, um ein wenig Abwechslung in den Fernfahreralltag zu bekommen.
Pawels Laster rollt einfach so dahin, immer gleich schnell und immer auf der rechten Spur.
Wenige Kilometer entfernt in Perpignan nimmt gerade Jaques Lebrédonchel den Platz am Schreibtisch ein und kontrolliert sein E-Mail-Postfach. Wie erwartet leuchtet dort bereits eine E-Mail von Claire fettgedruckt als Neueingang auf.
Er klickt die E-Mail an und liest sie sich geruhsam durch.
Währenddessen öffnet er auf dem Bildschirm das polizeiliche Kennzeichenerfassungssystem und gibt das erhaltene deutsche Kennzeichen dort ein. Bevor er auf die Eingabetaste drückt, steht er aber erst einmal auf und holt sich eine Tasse aus der Büroküche, um sie mit einem Café au lait an der Kaffeemaschine zu befüllen. Diese keucht und rauscht als würde sie gleich abheben, doch am Ende wird ein genießbarer Café au lait dabei herauskommen, auf dessen Genuss sich Jaques bereits freut.
Mit der Tasse geht er zurück an seinen Platz, drückt die Eingabetaste und lehnt sich im Stuhl zurück, um den ersten Schluck zu sich zu nehmen.
Doch während er die Tasse zum Mund führt, er kann den Geruch des Kaffees bereits wahrnehmen, erscheint auf dem Monitor eine rot hinterlegte Meldung. Das gesuchte Kennzeichen ist soeben über die spanisch-französische Grenze gekommen und befindet sich seit weniger als fünf Minuten auf französischem Hoheitsgebiet.
«Merde!», entfährt es Jaques Lebrédonchel. Er stellt die Tasse auf dem Schreibtisch ab, schreibt sich das Kennzeichen und den Lastertyp auf einen Zettel, springt aus dem Stuhl und läuft die Treppen hinab zur Funkzentale der Polizeistation.
«Cedric, auf der A9 fährt ein deutscher Laster. Hier hast du das Kennzeichen und den Typ vom Laster. Gib eine Fahndung an alle Kräfte auf den Straßen heraus. Verdacht auf Kokaintransport. Den nehmen wir komplett auseinander. Sie sollen sich melden, sobald sie ihn haben. Ich bin auf dem Weg.»
Jaques wirft seinem Kollegen den Zettel auf den Tisch, greift nach seiner dunklen Einsatzjacke, die er für solche Momente am Haken neben dem Ausgang hängen hat und läuft zur Tür hinaus. Kurz bevor er losfährt, zieht er sein Handy aus der Tasche und schreibt eine Nachricht an Claire. Zufrieden steckt er das Telefon wieder ein, stellt das Blaulicht auf das Dach und fährt mit aufheulender Sirene vom Hof in Richtung A9.
19
«Wenn Sie sich ruhig verhalten, dann setzen wir Sie jetzt auf das Sofa. Haben Sie mich verstanden?», fragt Scotty langsam und deutlich den glatzköpfigen Mann, der vor ihr auf dem Boden liegt.
«Ich bin hier nur zu Besuch. Ich weiß gar nicht, was Sie überhaupt von mir wollen», antwortet der Mann. «Ich habe nichts getan. Was wollen Sie mir hier vorwerfen? Auf einer Couch hocken und mit einer Konsole spielen?»
«Ihnen wird vorerst gar nichts vorgeworfen. Sie sind zunächst einmal Zeuge in einem Strafverfahren, müssen sich oder Angehörige hier auch nicht belasten. Haben Sie einen Ausweis dabei?», fragt Scotty, während sie dem Mann beim Aufstehen hilft.
«Nee, hab’ ich nicht», antwortet er trotzig.
«Wie heißen Sie denn?»
«Robert Köhler.»
«Sind sie der Bruder von Florian Köhler?», will Scotty wissen.
«Ja, das bin ich. Hat er wieder einmal Scheiße gebaut? Dem ist echt nicht mehr zu helfen», erwidert Robert Köhler genervt und verdreht dabei seine Augen.
«Wir werden die Wohnung jetzt durchsuchen. Wir haben eine Anordnung auf Gefahr im Verzuge von der Staatsanwaltschaft Hamburg vorliegen», erläutert Scotty das weitere Vorgehen.
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