Jard versuchte sein freudiges Grinsen zu verbergen, indem er seine Lippen zusammenpresste.
„Nun sag schon!“, drängte Kel.
Jard strich sich mit einer gemächlichen Handbewegung sein leicht gewelltes, dunkelbraunes Haar zurück, so als müsse er erst darüber nachdenken.
„Wir dürfen endlich nach Eriu gehen. Vater hat entschieden, dass wir beide so weit sind. Du und ich, wir werden bald Schüler des großen Tempels des Westens sein. All die Zeit, die wir zusammen auf diesem verfluchten Stoppelfeld trainiert haben, ist also nicht umsonst gewesen, denn nun hast du die Aussicht, eines Tages ein bedeutender Kämpfer zu werden und ich ein erfolgreicher Magieheiler... oder wer weiß... vielleicht entpuppen sich meine Fähigkeiten als so außergewöhnlich, dass ich sogar selbst ein Großmeister des Tempels werde.“ Wieder grinste Jard, diesmal so breit, dass seine geraden weißen Zähne aufblitzten. Kels Gesicht begann zu strahlen.
Jard blickte Kel in die Augen. Diese schönen, dämonisch- grauen Augen. Verblüfft von diesem eigenartigen Gedanken, wich er einen Schritt von ihm zurück und drückte Kel das Kraut in die Hände.
„Lass es uns besiegeln!“, sagte er und zog unvermittelt seinen Dolch.
„Besiegeln?“ Kel blickte perplex auf die scharfe Klinge des Dolches.
Ohne zu Zögern öffnete Jard seine Hand und schnitt einmal quer durch seine Handfläche. Der sogleich einsetzende, stechende Schmerz entfachte eine seltsame Euphorie. „Los, gib mir deine Hand!“, rief er und griff nach Kels freier Hand. Ein paar Blätter fielen dabei zu Boden. Kel zog erschrocken seine Hand zurück, doch Jard ließ sie nicht los.
„Dieser Blutschwur wird uns zusammenschweißen wie echte Brüder, Kel. Eine solche Verbindung kann nicht einmal der Tod auflösen. Wir werden gemeinsam lernen und kämpfen und wenn nötig auch für den anderen sterben. Du bist mir in den vergangenen Jahren immer wie ein Bruder gewesen, deswegen will ich dir mit meinem Blut ein Stück meiner Stärke schenken!“
Kel riss die Augen auf. „N...nein, Jard, tu das nicht... ich... kann das nicht tun...!“, stotterte Kel, seine Stimme klang ganz heiser.
Jard bedachte Kel mit einem verständnislosen Blick. „Warum stellst du dich so an? Seit Jahrhunderten ist es Tradition im Reich der vier Himmel, dass Männer Bluteide leisten. Was ist nur los mit dir? Erzähl mir nicht, du kannst kein Blut sehen!“
Jard hatte den Eindruck, Kel starrte geradezu panisch auf die feine hellrote Linie in seiner Handfläche.
„Nein. Das ist es nicht. Ich... ich kann nur nicht. Einen Bluteid leisten, meine ich...“, sagte Kel in abwehrender Haltung.
„ Kannst du nicht oder willst du nicht?“ Jard setzte eine gekränkte Miene auf.
„Ich kann es einfach nicht...“
„Oder liegt es daran, dass wir aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Rängen stammen? Komm schon, Kel. Bruder . Du weißt, dass mir... und meiner Familie das egal ist. Du gehörst zu uns.“ Er zog Kels Hand wieder fester zu sich, denn er war sich sicher, dass Kel keinen triftigen Grund hatte, seinen Großmut zu verschmähen. Die Ehre, die Kel in diesem Moment zuteil wurde, konnte dieser unmöglich ablehnen. Er musste doch wissen, welche Kränkung eine solche Ablehnung bedeutete. Jard versuchte in Kels Augen den wahren Grund für seinen Widerwillen zu finden. Er sah seinen Freund schwer schlucken. Dann entkrampfte Kel endlich seine Hand. Sie zitterte.
***
Die kühle Klinge fühlte sich an wie Feuer, als sie durch seine Handfläche glitt. Kel sog geräuschvoll die Luft durch seine zusammengepressten Zähne. Als Jard fertig war, drückte er seine blutige Hand in seine. Eine Wärme schoss durch Kels Arm und strömte durch seinen gesamten Körper.
„Hiermit schwöre ich - Jarden Amatris Sohn des Vardan- dir, Kel, Sohn des...“ Jard hielt inne, „...erinnerst du dich an den Namen deines Vaters?“
Kel nickte. „Avias. Er kämpfte vor neun Jahren als Söldner in der Schlacht von Ivadyn. Dort starb er.“
Jard hielt noch einen Moment inne, so als gönne er Kel noch einen stillen Moment des Gedenkens.
Dann setzte er fort: „Kel, Sohn des Avias, dem tapferen Krieger von Ivadyn, in diesem Leben bedingungslos und mit unerschütterlicher Treue und unerschöpflicher Kraft zur Seite zu stehen. Von diesem Tag an sind wir Brüder für die Ewigkeit!“, flüsterte Jard mit funkelnden Augen.
Kel schluckte schwer. Seine Kehle war trocken.
„Hiermit schwöre ich, Kel, S...Sohn des Avias dir, Jarden Amatris, Sohn des Varden in diesem Leben bedingungslos und mit unerschütterlicher Treue und unerschöpflicher Kraft zur Seite zu stehen. Von nun an sind wir Brüder “, wiederholte Kel und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme . Es war eine Lüge. Er log während eines geheiligten Rituals. Wenn ihn dafür nicht die ewige Verdammnis erwartete.
K el schloss die Tür zu seiner behaglichen Kammer im ersten Stock der herrschaftlichen Residenz, die in der Nähe des belebten Stadtzentrums von Aracon lag. Er warf das Bündel Wolfsnesselkraut auf das Kirschholztischchen in der Ecke. Natürlich würde dieses Kraut ihm niemals zu einem stählernen, männlichen Körper verhelfen, geschweige denn zu einem Bart. Es war einfach unmöglich. Erschöpft ließ Kel sich aufs Bett sinken und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Die Schmerzen im Leib waren wieder stärker geworden. Verzweiflung brach über ihn herein. Tränen brannten in seinen Augen und wanden sich wie winzige Flüsse durch das vom Übungskampf verstaubte Gesicht. Nun war der Fluch des Blutes nicht mehr das einzige Problem, dachte er mutlos und betrachtete seine Handfläche und die deutlichen Spuren des Blutschwurs, den er und Jard abgelegt hatten.
Niemals hätte ich diesen Bluteid mit Jard besiegeln dürfen , warf Kel sich vor, denn Kel war kein Mann. Nein, Kel war nicht einmal ein richtiger Junge. Ein Mädchen, das war sie. Kelestra . Und wie jede Frau, hatte auch sie der Fluch des Blutes getroffen. Der Fluch, der auf allen Frauen lag. Ein Merkmal von Schwäche. Der Grund, warum Mädchen und Frauen in dieser Welt weniger wert waren als Männer. Genau genommen hatte sie es nicht einmal verdient hier zu sein, denn sie würde niemals die Erwartungen erfüllen können, die Vardan hatte, als er Kel damals, in der Annahme, einen kampftalentierten Jungen vor sich zu haben, mit zu seiner Familie genommen hatte.
Sie war wertlos. Abschaum! Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit ans Licht kam. Heute war es nicht das erste Mal gewesen, dass die monatliche Blutung mit den verbundenen Unterleibskrämpfen sie beinahe verraten hätten. Und mehr als einmal, hatte sich das Hauspersonal über ihre nächtlichen Wanderungen in die Küche gewundert, wo sie die blutgetränkten Beweisstücke ihrer Weiblichkeit im Ofen verschwinden ließ.
Plötzlich musste sie an ihre Großmutter denken.
Nona hatte sie schon früh gewarnt, vor dem Fluch aller Frauen, und dass die Welt da draußen eine Welt der Männer war. Die Männer waren es, die die Macht besaßen und auch die Magie.
Als es ihrer Nona immer schlechter ging und ihr Ende nahte, hatte sie Kel einen Rat gegeben, dessen Beherzigung Kel letztendlich vor großem Übel bewahrte, wie ihr Jahre später klar geworden war.
„ Kelestra, meine Kleine, als Waise wirst du nicht länger hier wohnen dürfen. Sie werden dich holen und dich an eines der roten Häuser verkaufen, wo jungen Mädchen wie dir widerliche Dinge angetan werden. Das darfst du niemals zulassen, hörst du. Lass niemals zu, dass diese Männer dir wehtun.“
Als zehnjährige hatte Kel nicht recht verstanden, was ihre Großmutter meinte, bis zu dem einen Tag, in ihrer Zeit als Straßenkind, als sie unfreiwillig Augenzeugin eines Vorfalles geworden war, der genau das wiedergab, was Nona ihr zu erklären versucht hatte. Sie würde nicht zulassen, dass ein Mann ihr jemals auf so brutale Weise wehtat, wie es dem armen Straßenmädchen ergangen war, das nicht so gescheit gewesen war wie Kelestra, die sich zu ihrem eigenen Schutz als Junge ausgab, wie Nona es ihr geraten hatte.
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