Ocai fletschte seine fauligen Zähne. „Sag bloß, du hast den ganzen Lohn für dieses Entenfutter verschwendet? Da hat der Wüstenmann dich aber gehörig über den Tisch gezogen.“ Wütend zermalmte Ocai ein weiteres Stück des Brötchens unter seiner Schuhsohle, an der der zerbröselte Ziegenkäse kleben blieb.
Kel schluckte schwer. Sein Hals war staubtrocken. Seit wann hatte er eigentlich nichts mehr getrunken?
„Der Hafenmeister hat mir nur einen Targesh und zwanzig Cuan gezahlt. Das Brötchen kostete sogar einen Targesh und zweiunddreißig Cuan, doch der Mann hat mir den Rest erlassen.“
„So, hat er das?“ knurrte Ocai. „Da hast du aber Glück gehabt, an einen so freundlichen Mann geraten zu sein. Nur Pech für dich, dass wir nicht so nett sind wie der Turbanträger!“ Er packte Kel mit einer Hand an den lockeren Schnüren seines Hemdes und mit der anderen umfasste er seinen schlanken Hals. Kels von Natur aus blasse Haut wurde kalkweiß. Die zarte Haut unter seinen Augen begann bläulich violett zu schimmern. Lähmende Angst schnürte ihm zusätzlich die Kehle zu. Er rang nach Luft und starrte in die finsteren Mienen seiner drei Angreifer, die allmählich vor seinen Augen verschwommen.
Nein, du wirst nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt, schien ihm eine seltsam vertraute Stimme in seinem Kopf zuzuflüstern. Es war nicht die Stimme seiner verstorbenen Großmutter. Diese Stimme klang wesentlich jünger. Vielleicht war es die Stimme seiner Mutter. Er wusste es nicht. Seine Mutter war vor zwölf Jahren gestorben. Nur wenige Sekunden nachdem er den ersten Atemzug seines Lebens genommen hatte.
Schwindel erfasste ihn. Er presste die Augen zusammen.
Seine Gedanken begannen wie Quellwolken am Himmel auseinander zu driften. Nein- bleib stark!
Plötzlich spürte Kel etwas, das sich wie ein Windstoß anfühlte. Windstoß...? Wohl eher ein Taifun, der an ihnen vorbei peitschte. Panisch riss Kel die Augen auf und beobachtete voller Erstaunen, wie Ocai, der eben noch mit seinen riesigen Händen versucht hatte, seine Kehle zuzudrücken, nun von dem Sturm meterweit davon geschleudert wurde. Eine weitere gewaltige Böe riss die beiden anderen Jungen davon. Rückwärts purzelten alle drei zu Boden und blieben scheinbar erstarrt vor Schreck liegen. Das Geäst über Kel zitterte und knackte, Blätter wirbelten wie wild herum und wurden davongetragen, bevor sie in einiger Entfernung sanft zu Boden segelten. Einen Wimpernschlag später war der rätselhafte Sturm ebenso schnell vorbei, wie er erschienen war. Kel rappelte sich auf und flüchtete so schnell er konnte. Im Vorbeirennen warf er einen neugierigen Blick auf seine am Boden liegenden Angreifer. Erschrocken wich er zurück, als er in allen drei Gesichtern rätselhafte rote Striemen entdeckte, einige waren blutig, als hätte ihnen jemand mit einer mehrsträngigen Peitsche ins Gesicht geschlagen. Allmählich kamen Ocai und seine Kumpane zu Bewusstsein und begannen zu stöhnen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete Kel davon, erfüllt von der Furcht, der mysteriöse Sekundensturm wolle auch ihn noch einholen.
***
Hungrig und ziellos taumelte Kel durch die Gassen der Hauptstadt des Westreichs. Dieser exklusive Teil der Stadt, mit seiner feinen Gesellschaft war ihm unbekannt. Er konnte sich weder erinnern, wie er hierher gelangt war, noch was er hier eigentlich wollte. Hier fiel er jedenfalls auf, wie ein geblümtes Kamel, zwischen all den kostspielig gekleideten Menschen, die sich mit bunten –aus dem entfernten Reich der aufgehenden Sonne – importierten Seidenfächern Luft zuwedelten und den tadellos uniformierten, privilegierten Schuljungen, die die angesehene Akademie von Aracon besuchten. An ihren unterschiedlich gefärbten Gürtelschärpen konnte Kel ihre Graduierungen erkennen. Auch sein Vater hatte oft eine Uniform getragen, als er noch lebte und als Söldner im Krieg gekämpft hatte, bevor er eines Tages nicht mehr heimkehrte. Da war Kel sechs Jahre alt gewesen. Die grüne Söldnerschärpe seines Vaters war eine der wenigen Habseligkeiten, die Kel noch besaß. Die meisten Dinge aus seiner Vergangenheit waren ihm in den Jahren auf der Straße gestohlen oder vom Hochwasser zerstört worden.
Seit Nona, seine geliebte Großmutter, vor fast zwei Jahren gestorben war, lebte Kel ohne ein Dach über dem Kopf im schäbigsten Viertel Aracons. Dort herrschte das Gesetz der Straße und die meisten Bewohner hausten in windschiefen Hütten und ärmlichen Baracken.
Er suchte sich mal hier, mal dort Unterschlupf vor der brütenden Hitze, wie sie jetzt in der Mitte des Sommers herrschte. Während der eisigen Winter, die im Westreich keine Seltenheit waren, fand er meist Zuflucht in verlassenen Ställen, die er mit vielen anderen Straßenkindern teilen musste.
Von irgendwo strömte der Duft namenloser Köstlichkeiten in seine Nase und nagte an seinem Verstand. Wenn er es wagte, in einer Gegend wie dieser zu betteln, bestand die Gefahr, verhaftet zu werden, doch der quälende Hunger raubte ihm jegliche Vernunft. Zögerlich näherte er sich einer Gruppe Männer, die vor einem imposanten pfirsichfarbenen Gebäude mit roten Ziegeln eine rege Unterhaltung führten. Einige trugen reich verzierte Kopfbedeckungen, die man Kausia nannte und die sie als angesehene Bürger klassifizierten. Ein Mann jedoch trug auffälligen Schmuck und weitaus prächtigere Gewänder in dunklen Blautönen als alle anderen. Schon auf den ersten Blick erkannte man, dass er ein hohes Amt bekleidete oder zumindest eine überaus wichtige Persönlichkeit war.
Mit geöffneten Händen trat Kel auf die Männer zu. „Habt erbarmen...“, stammelte er, „...ich habe solchen Hunger, nur ein paar Cuan für eine Schale Getreidebrei würden mir genügen...bitte...“
Die Männer mit den Kausias musterten Kel von Kopf bis Fuß, die Empörung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Zeit schien einen Moment stehen zubleiben und Kel überlegte, ob er lieber die Beine in die Hand nehmen und von diesem Ort flüchten sollte. Das unergründliche Schweigen und die erbosten Mienen der Männer ließen nichts Gutes erahnen. Dann ergriff einer der Männer endlich das Wort: „Betteln ist hier verboten! Mach dass du in dein Viertel verschwindest, Bengel, bevor wir die Stadtwachen rufen!“ Der Mann wurde ganz rot unter seiner hellbraunen Kausia. Verängstigt wich Kel vor dem Mann zurück.
Unerwartet spürte Kel jedoch eine sanfte Berührung. Es war der Edelmann, der Kel seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Mit der anderen Hand hantierte er an seinem Geldbeutel, der an seinem prunkvoll verzierten Gürtel hing, und nach ein Paar Handgriffen förderte er eine Silbermünze zu Tage. Bei dem Anblick schluckte Kel seinen trockenen Speichel so heftig herunter, dass es in seinem Hals schmerzte. Das Silberstück musste mindestens dreißig Targesh wert sein.
„Udris, mein lieber Freund“, wandte er sich an den Mann, der Kel zuvor so grob zurechtgewiesen hatte. „Der arme Junge hat doch nur Hunger. Hunger ist wahrlich ein qualvolles Gefühl, das Ihr – mein lieber Udris – sicher nicht kennt. Bedenkt, dass niemand etwas dafür kann, in welche Gesellschaftsschicht er hineingeboren wird. Niemand kann sich seine Eltern aussuchen. Allein das Schicksal entscheidet darüber.“ Die sanfte Stimme des Edelmannes wirkte seltsam beruhigend auf Kel, dessen nervöser Herzschlag sich daraufhin normalisierte. Die anderen Männer schienen den Worten nur widerwillig zuzustimmen, doch milderte sich ihre geringschätzige Mimik ein wenig.
„Wie Ihr meint, ehrenwerter Stadtverwalter Vardan“, murmelte der Mann namens Udris.
Die Münze landete in Kels Handfläche.
Seine Augen begannen zu glänzen und wurden so riesig, dass der Wohltäter beinahe befürchten musste, sie könnten jeden Moment aus ihren Höhlen fallen. Kel wiederholte mehrmals hektische Gesten der Dankbarkeit und verbeugte sich immer wieder, als handele es sich hier um eine Begegnung mit dem König des Reichs der vier Himmel. Er umschloss die Münze fest mit seinen schlanken Fingern und entfernte sich, noch immer verneigend, von der Gruppe. Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, stieß Kel einen Jubelschrei aus und rannte in die Richtung aus der die verführerischen Düfte strömten. An der nächsten Straßenabbiegung blieb er wie erstarrt stehen. Gegenüber lauerten Ocai und seine Kameraden. Sie waren in Begleitung eines uniformierten Mannes, der zweifellos der Stadtwache angehörte.
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