Samuel deutet eine kleine Verbeugung in Alice Richtung an und sagt:
»My Lady. Ich wünsche Euch einen schönen Tag.«
Die Werwölfin antwortet nicht, sieht Samuel erstaunt hinterher, wie er in einem kleinen Bogen, um sie herum, dem Ausgang entgegen geht.
Er öffnet die Türe nur einen Spalt breit, gerade weit genug, damit er hindurch passt. So berührt die Oberkante der Tür die kleine Glocke nicht und sie muss keine weiteren Laute ausstoßen. Samuel dreht sich ein letztes Mal um, bevor sich die Türe hinter ihm ganz geschlossen hat. Aber Alice beachtet ihn überhaupt nicht, sie hockt bereits vor Liam und versucht ihn wieder von den Toten aufzuwecken.
Die Tür fällt ins Schloss, Samuel überquert die Straße und geht in sein Haus.
Erst als er versucht seine Wohnungstür aufzuschließen, fällt die ganze Anspannung von ihm ab. Seine Hände zittern, er trifft das Schloss kaum. Verdammt, reiß dich zusammen, redet er sich selbst gut zu. Und tatsächlich, nach ein paar Sekunden hat er sich soweit beruhigt, dass er wenigstens aufschließen kann. Er donnert die Tür hinter sich zu, sodass es im gesamten Treppenhaus nachhallt. Schwer atmend lehnt er sich dagegen.
Das darf doch alles nicht wahr sein, denkt er, zuerst finde ich dieses … dieses Wesen, den verdammten Blutsauger, und dann holt mich auch noch meine Vergangenheit ein. Er stößt sich ab und eilt ins Esszimmer. Dort hat er eben ein halbvolles Whiskyglas stehen gelassen. Er nimmt es und stürzt die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Schluck hinunter. Verzweifelt greift er nach der Flasche, schüttet den restlichen Inhalt in sein Glas. Es ist nicht mehr viel, knapp einen Fingerbreit, aber es wird reichen, um seine Seele wieder zu beruhigen. Samuel hängt die Jacke über die Stuhllehne und setzt sich an den Esstisch. Düster starrt er durch das Fenster, in den trüben Himmel.
Dass sie aber auch ausgerechnet jetzt und hier auftauchen muss, überlegt er wütend, dabei kann die Kleine gar nichts dafür. Doch sie sieht ihr so verdammt ähnlich, selbst ihr Geruch ist derselbe. Wenn ich nicht genau wüsste, dass sie damals starb, würde ich schwören können …
Samuel schüttelt den Kopf und trinkt sein Glas leer. Aber ich weiß es, weil ich sie selbst getötet habe.
Aufseufzend nimmt er sich eine Zigarette aus dem Päckchen, seine Hand, die das Feuerzeug hält, zittert immer noch ein wenig. Tief inhaliert er den Rauch, lehnt sich zurück und stößt kleine Rauchkringel in die Luft.
Meine süße, kleine Emilia, erinnert er sich, in meinem Leben habe ich schon viele Schandtaten begannen, aber dich zu töten, war wohl das Schlimmste, das ich je vollbrachte. Dabei warst du so zart und noch so jung und dabei so verflucht … schuldig.
Aber mein Herz brannte lichterloh, meine gequälte Seele schrie immerzu deinen Namen, doch mein grausamer Verstand hörte nicht zu und stieß dich in die ewige Verdammnis. Einhundert Jahre büßte ich für meine Tat, ich zog als Tod durch die Gegend, verwandelte mich in all der Zeit nicht mehr zurück. Sprach mit niemandem, lachte nicht, trank und aß nichts.
Ein gesamtes Jahrhundert hindurch, bereute ich, bedauerte und beweinte dich, meine kleine Emilia. Mein süßes Kind, meine Geliebte, meine Freundin. Wieso war nur deine Zeit so kurz bemessen? Die Sanduhr des Todes, sie war viel zu rasch für dich abgelaufen. Und warum musste ausgerechnet ich dein Todesengel sein. Samuel ballt die Hände zu Fäusten, dass es nur so knackt, er hat für seine unbändige Wut kein Ventil, so lässt er die Fäuste krachend auf den Tisch donnern. Das leere Glas hüpft hoch und kippt auf die Seite. Langsam rollt es umher und beschreibt dabei einen Kreis. Samuels Finger tippen das Glas an und es dreht es sich schneller um die eigene Achse. Nach ein paar Minuten wird dem Tod dieses Spiel zu langweilig. Er stellt das Glas wieder aufrecht hin, geht in sein Schlafzimmer, nimmt sich frische Anziehsachen aus dem Schrank und verschwindet im Bad. Er dreht die Dusche auf die höchste Stufe, zieht sich die Jeans aus und seine Short. Er stellt sich unter den heißen Wasserstrahl, lässt ihn sich über die Schultern und in den Nacken prasseln.
Während sich das kleine Badezimmer in eine dampfende Sauna verwandelt, denkt der Tod an alte, längst vergangene Jahrhunderte zurück und an die einzige Liebe seines Daseins und dass er sie am Ende tötete.
*
Alice schlägt dem Vampir mit Wucht auf die Wange.
»Liam, verdammt. Komm wieder zu dir.«
Seine Lider flattern, die Lippen zucken leicht. Er reißt die Augen weit auf, setzt sich mit Schwung aufrecht hin. Seine Arme wirbeln umher, als wollte er einen unsichtbaren Gegner abwehren.
»Hey, ist schon gut«, meint Alice sanft. »Er ist längst weg.«
Liam wirft ihr einen Blick zu, atmet erleichtert aus.
»So ein Glück«, sagt er keuchend.
Die Werwölfin zerrt ihn hoch, er stütz sich an der Theke ab, als überkommt ihn ein Schwindelanfall.
»Was zum Teufel war hier los?«, fragt Alice. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Liam mit dem gut aussehenden Kerl in Streit geraten ist.
»Ich … weiß es nicht«, erwidert Liam und versucht krampfhaft, sich zu beruhigen. In seinem ganzen Dasein kam er der ewigen Verdammnis noch niemals so nah, wie eben, als der Tod ihn einen Blick in die Hölle werfen ließ. Es war ein scheußliches Gefühl, und wenn Alice nicht dazwischen gekommen wäre, so hätte er sich ergeben um mitten unter den Kreaturen des Abgrundes sein weiteres Dasein zu fristen.
»Was wollte der Kerl denn von dir?«
Der Vampir zuckt mit den Schultern.
»Er wollte mich töten, was denn sonst. Immerhin war das der Tod.«
»Aber…« Alice denkt einen Moment nach.
Sie wusste sofort, dass er ein Sensenmann ist, aber dennoch kam er ihr so vertraut und liebenswürdig vor. Nichts war an ihm, vor dem sie sich fürchten müsste. Vor allem nicht diese herrlichen, blauen Augen, die wie tiefe Seen wirken, in die man gefahrenlos hinab tauchen kann.
»Ich verstehe das nicht«, beendet sie ihren Satz nachdenklich.
Liam schnaubt abfällig. »Ich auch nicht. Dennoch haben wir den verdammten Tod gegenüber wohnen. Und ich denke, er wird wiederkommen. Wir müssen von hier verschwinden.«
»Was?«, ruft Alice aufgeregt. »Niemals werde ich mein Geschäft im Stich lassen. Nicht in hundert Jahren.«
Der Vampir fletscht die Zähne.
»Er wird auch dich holen, immerhin bist du auch ein Anderswesen.«
Energisch schüttelt die kleine Wölfin mit dem Kopf, ihre langen Haare fliegen um sie herum.
»Nein, Liam. Er war nur hinter dir her. Du kannst ja gehen, aber ich bleibe hier. Schluss. Aus. Ende. Ich bleibe.«
Unmöglich kann der Vampir seine Freundin alleine lassen. Er hat zwar Angst vor dem Sensenmann, aber noch größer ist seine Furcht, dass Alice etwas zustoßen könnte. So springt er ein weiteres Mal über seinen Schatten, nickt kleinlaut und meint:
»Du hast ja recht, Alice. In Ordnung … ich bleibe.«
»Gut«, sagt sie schlicht und geht hinter die Theke.
»Ich bin nur zurückgekommen, weil ich etwas vergessen habe.«
Sie schließt eine der unteren Schubladen mit einem kleinen Schlüssel auf und entnimmt einen winzigen Flacon. Rasch lässt sie das Fläschchen in ihrer Handtasche verschwinden. Liam hat es dennoch gesehen.
»Ah, du belieferst also auch schon tagsüber deine Junkies?«
Ohne ein Wort zu sagen, zuckt Alice mit den Schultern und geht zur Türe.
»Ich bin bald wieder zurück«, sagt sie. »Versuche bitte, dich in der Zeit nicht umbringen zu lassen.«
»Ja, ja.« Der Vampir winkt ab.
Kaum ist das helle Klingeln verstummt, begibt er sich hinter die Theke um sich ein großes Glas mit Blut aufzuwärmen.
Das brauche ich jetzt, denkt er, und dann werde ich überlegen, wie ich diesen verdammten Jäger loswerde.
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