1 ...8 9 10 12 13 14 ...27 „Das Kloster der Armen Brüder,“ erläuterte Vater auf Norberts ehrfürchtigen Blick.
Die gewaltigen Tempelmauern waren nur ein weiterer drohender Schrecken dieser Stadt, von der Norbert glaubte, dass er sie bis an sein Lebensende hassen würde wie die Pest.
Auf dem Marktplatz wurden die Stände geleert. Händler luden ihre Waren in Schulterkiepen und Karren. In Lumpen gehüllte Frauen und dreckstarrende Kinder wanderten zwischen den Ständen herum und sammelten Gemüseabfälle auf. Die Händler fuhren sie an, manche traten auch zu, doch die Bettelleute zogen lediglich die Schultern ein und bückten sich nach dem nächsten Gemüserest. Ein Junge rannte über den Marktplatz, von rachsüchtigem Geschrei verfolgt. Er presste einen Kohlkopf gegen sein zerfetztes Hemd. Norbert blickte ihm mit klopfendem Herzen nach, bis er in einer Gasse verschwand. Ein untersetzter Mann in einer Schürze brüllte ihm hinterher. Er schwang ein Tischbein in der Faust.
Norbert blickte sich um wie gehetzt, als würde er selbst verfolgt von den wütenden Marktleuten. Da kauerten Gestalten an den Hausmauern längs des Platzes. Aus dreckigen Lumpen streckten sie den Vorbeigehenden Armstümpfe entgegen, blinzelten einäugig aus entstellten Gesichtern, ein Junge ohne Beine saß in einem Handwagen. Vater ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.
„Erbarmen, Junge, einen Viertelkreuzer für einen Diener des Grafen, der seinem Herrn treu gedient hat.“
Eine Krücke schwang vor Norbert. Der junge Mann, der sie hielt, hatte seinen Beinstumpf mit schmutzigen Lappen umwickelt. Sie waren dunkel von Blut. Auch das Sackleinen um die seltsam verkrümmte Hand waren blutverkrustet.
„Nur einen Viertelkreuzer, guter Junge!“
Fassungslos starrte Norbert in das ausgezehrte Gesicht. Er bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, als könnte er die Erscheinung dadurch vertreiben. Dann rannte er dem Vater hinterher.
„Vater!“
Er konnte nicht anders, er musste sich an Vaters Jacke klammern. Tränen rannen Norbert übers Gesicht.
„Vater, was sind das für Leute?“
„Ich habe dir gesagt, dass du sie sehen würdest. Kriegskrüppel: Männer, die mutig aber dumm genug waren, in den Krieg zu ziehen. Jetzt sind sie klug geworden. Aber das schützt sie nicht mehr vorm Verrecken.“
Norbert wurde schlecht.
„Vater, lass uns weggehen. Lass uns draußen übernachten, nicht in der Stadt.“
„Unsinn, komm jetzt. Reiß dich zusammen!“
Der Vater schlug ihm über den Kopf – es war nur ein angedeuteter Schlag.
„Ich habe dir geraten, zuerst klug zu werden. Du wirst jetzt wohl auf mich hören, wie?“
Norbert nickte stumm.
***
Der Gasthof „Zum frommen Pilger“ lag ein paar Quergassen abseits vom Markt an der unteren Klostermauer. Es war ein großer Gasthof. Licht schimmerte aus den Pergamentfenstern im Erdgeschoss auf die Gasse hinaus. Aus der halboffenen Tür drangen Essensgerüche und Stimmengewirr. Der Vater und Norbert brachten den Esel in den Stall. Vater gab dem Stallknecht Trinkgeld und nahm dem Esel das Gepäck ab. Durch den Hinterhof mit den Latrinen und der Waschküche gingen sie zur Gaststube hinüber. Irgendwo lachte ein Mädchen. Ihr Juchzen passte nicht in eine Pilgerherberge, wie Norbert sie sich vorstellte.
Die Gaststube nahm das gesamte Untergeschoss des Wirtshauses ein. Viele der langen Tische waren voll besetzt. Männer mit abgearbeiteten, blassen Gesichtern hielten ihre Bierhumpen in die Höhe und prosteten den Schankmädchen zu, die mit Armen voller Humpen von den Bierfässern her kamen. Die Mädchen hatten saubere Kleider an, stellte Norbert staunend fest, manche sogar blau gefärbte Schürzen, die sie sich eng um die Taille geschnürt hatten. Eine junge Frau erzählte den Männern an den umgebenden Tischen mit in die Hüften gestemmten Armen eine Geschichte, die offenbar sehr lustig war, denn die Männer johlten und prosteten ihr zu. Über der Herdstelle wurde ein Spanferkel am Spieß gedreht. Es roch nach Bier, verschwitzten Körpern und Braten. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.
Sie suchten sich einen freien Platz an einem Tisch am unteren Ende der Gaststube.
Der Vater fragte das Mädchen, das an den Tisch kam: „Ist Rebekka nicht da?“
Das Mädchen überlegte kurz. Dann sah sie Hans Lederer nachdenklich an. Der Vater holte den Geldbeutel aus der Jacke, legte ihn klimpernd auf den Tisch ohne ihn loszulassen und steckte ihn wieder ein. Norbert beobachtete die Szene gespannt, ohne etwas begreifen zu können.
„Ich glaube, Rebekka ist in der Waschküche,“ sagte das Mädchen mit einem seltsamen Blick auf Norbert. „Ich sag ihr Bescheid. Soll ich dir Bier bringen?“
Der Vater nickte. „Und dem Jungen auch. Essen wollen wir auch was.“
„Ich bringe euch Eintopf und Bier. Wollt ihr auch Spanferkel?“
Oh ja, bitte, bitte! dachte Norbert.
Doch er wusste, dass der Vater kaum viel Geld ausgeben würde. In Wildenbruch achtete er stets genauestens darauf, dass niemand mit dem Essen verschwenderisch umging.
„Ja,“ sagte Hans Lederer. „Und gib uns Brot dazu.“
Norbert starrte den Vater mit großen Augen an.
Der duftende Krustenbraten, der Kartoffeleintopf und das frische Brot ließen Norbert die Schrecken der Unterstadt und des Marktplatzes vergessen. Er war so mit Kauen und Schlucken beschäftigt, dass er den Wirtshauslärm kaum noch wahrnahm. Das Bier stieg ihm in den Kopf und machte ihn dösig. Die junge Frau bemerkte er erst, als sie sich zu ihnen an den Tisch setzte. Ihre Schürze war ausgebleicht und sie hatte Schwielen an den Händen, aber die Haut ihrer Unterarme, des Gesichts und des Halses, der bis zum Schlüsselbein zu sehen war, war sauber. Ihr brünettes Haar war gewaschen und ordentlich aufgesteckt. So viel Mühe um ihr Äußeres gaben sich die Wildenbrucher Frauen nur an Festtagen. Die junge Frau hatte ein hübsches Gesicht, fand Norbert. Er wunderte sich, warum sie ihr Kleid nicht bis oben zugeschnürt hatte.
„Sonst kommst du immer im Herbst,“ sagte die Frau zu Hans Lederer.
Sie war wohl die Rebekka, nach der der Vater gefragt hatte.
Hans Lederer deutete auf Norbert. „Mein Sohn. Er ist geistersichtig. Es gibt Gerede darüber im Dorf. Ich bringe ihn zu den Armen Brüdern, damit sie über ihm beten.“
Den Blick, mit dem die Frau, die wohl Rebekka war, ihn betrachtete, fand Norbert freundlich.
„Glaubst du, die Gebete der Armen Brüder werden ihm helfen?“
„Wehe, wenn nicht!“ grollte Hans Lederer. „Er soll sich bloß zusammenreißen!“
Er sah Norbert drohend an. Norbert guckte auf seinen Teller und stopfte sich Spanferkel in den Mund, weil er nicht wusste, was er darauf für ein Gesicht machen sollte. Als er aufgekaut hatte, wischte er mit dem Finger den letzten Rest Suppe aus der Holzschale. Der Vater und Rebekka unterhielten sich leise. Rebekka nahm Norbert den Suppenteller aus der Hand.
„Ich hole dir noch Eintopf. Du brauchst bei uns nicht zu hungern.“
Norbert musste an die Kriegskrüppel draußen beim Markt denken. Plötzlich fühlte er sich schlecht.
Als Rebekka mit dem vollen Teller Suppe zurück an den Tisch kam, fragte Norbert, obwohl sein Herz dabei zu pochen anfing: „Warum gibt niemand den Kriegskrüppeln was zu essen? Und den Bettelkindern?“
Aus irgend einem Grund glaubte er, solange Rebekka am Tisch saß, würde er vom Vater keine Ohrfeigen kassieren. Der Vater schlug tatsächlich nicht zu.
Statt dessen grollte er: „Weil die nichts haben, womit sie bezahlen können! Wer sollte ihnen da was geben wollen? Wenn du allen Krüppeln der Welt dein Geld geben willst, bist du bald selber Bettler! Glaub bloß nicht die Ammenmärchen, die die Weiber im Dorf erzählen: Wenn eine ihr letztes Hemd weggibt, regnen die Sterne Gold auf sie herab. Im Dreck landet sie, nirgends sonst!“
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