1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Außer Norbert und dem Vater waren an diesem Abend vier Kriegsknechte in Köhlershofen zur Herberge. Sie saßen beieinander am Tisch, tranken Bier aus Holzhumpen und blickten verdrossen vor sich hin. Ihre Piken lehnten an der Hauswand hinter ihnen. Am vorderen Tisch saß ein in einen Kapuzenumhang gehüllter Reisender mit schmutzigen Stiefeln und einem Schwert in einer Lederscheide, das er neben sich an den Tisch gelehnt hatte. Er blickte kurz von seinem Humpen auf, als Hans Lederer und Norbert über die Bank stiegen und sich an den Tisch setzten. Der Esel stand an ein Gatter gebunden an der Tränke. Norbert erhaschte einen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze des Fremden. Graue Augen in einem wettergebräunten Bartgesicht musterten ihn.
„Den Sternen zum Gruß,“ knurrte der Vater.
Er rückte den Dolch am Gürtel zurecht. Der Fremde nickte nur. Norbert schaute fasziniert nach den Landsknechten in ihren speckigen Lederrüstungen. Helme und Lederhandschuhe lagen neben ihnen auf den Bänken. Die ungekämmten Haare hingen ihnen wirr über die Schultern. Einer von ihnen nickte Norbert zu. Er blickte auf Norberts nackte Füße und verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen. Es sah nicht unfreundlich aus, fand Norbert, eher wie in halber Anerkennung für einen Jungen, der barfuß über Land reisen musste.
„Siedler?“ Die Stimme des Kriegsknechts hatte den Klang eines Reibeisens.
„Wir sind aus Wildenbruch,“ erklärte Vater. „Mein Junge faselt ständig davon, dass er Gespenster sieht. Ich bringe ihn zum Kloster der Armen Brüder in Altenweil, damit sie über ihm beten.“
Der Fremde sah auf. Einige Augenblicke lang lag der Blick seiner grauen Augen auf Norbert.
„Vielleicht ist es gar kein krankes Gefasel,“ überlegte einer der Kriegsknechte. „Vielleicht sieht dein Junge einfach nur mehr als andere. Wir hatten einen Kameraden...“
„Es ist eine Krankheit!“ polterte Hans Lederer. „Die Armen Brüder werden ihn heilen!“
Der Klang seiner Stimme verriet, dass er keinen Widerspruch duldete, was seinen Sohn betraf. Irrte Norbert sich, oder hatte er dem Fremden bei Vaters Wutausbruch den Kopf schütteln sehen?
„Hör mal, Siedler, seid ihr unterwegs Leuten begegnet?“ wollte der Kriegsknecht wissen. „Wir sind vom Markgrafen ausgesandt, nach Wilddieben zu suchen.“
Vater schüttelte den Kopf. „Keiner Menschenseele.“
Die Schankmagd brachte Bier und Kohlsuppe mit Schwarzbrot.
„Ihr könnt den Esel über Nacht in den Stall bringen,“ erklärte sie.
Der Vater nickte. Der Fremde betrachtete ihn, während der Vater schmatzend seine Suppe schlürfte.
„Da wirst du den Armen Brüdern viel bezahlen müssen, damit sie eine ihrer wundertätigen Ikonen über deinen Sohn halten und beten.“
Norbert fand die tiefe Stimme nicht unsympathisch. Der Vater sah kauend auf. Er betrachtete den Fremden, dann blickte er kurz zu den Kriegsknechten hinüber.
„Ich kenne jemanden in Altenweil, der mir Geld leiht,“ knurrte er. „Anton Dreyfuß, ein gelehrter Herr. Er kennt mich schon mehrere Jahre.“
Zuckte da ein Grinsen um die Lippen des Fremden? „Anton Dreyfuß leiht dir Geld? Wofür?“
„Das ist nicht deine Angelegenheit!“ brauste Hans Lederer auf.
„Das stimmt.“
Der Fremde stand auf, nahm sein Schwert und nickte Norbert zu. Ja tatsächlich, ihm, nicht dem Vater.
„Ich hau mich hin. Hab einen langen Reisetag hinter mir.“
Die Herbergstür knarrte, während er drinnen verschwand.
„Vater, was für ein Mann ist das?“ flüsterte Norbert.
„Ein Dreckskerl von einem Vagabunden, ein Strauchdieb oder Freischärler, ein Vogelfreier, ein Abenteurer, einer vom freien fahrenden Volk, die sich keinem Fürsten und keinem König untertan fühlen!“ brummte der Vater ebenso leise. „Ich bin froh, dass die Kriegsknechte heute Nacht hier sind, sonst wär ich weitergezogen, eh ich mit dem eine Nacht unter einem Dach verbracht hätte!“
Norbert war kein bisschen schlauer. Er hatte keine Ahnung, was für Leute das sein mochten, über die der Vater schimpfte.
***
Als es dunkel wurde, brachte der Vater den Esel in den Stall. Die Kriegsknechte nahmen ihre Piken und zogen sich in die Herberge zurück. Die Herbergstür klapperte. Norbert ging zu den Latrinen hinüber, die ein Stück weit ab auf einer Brache standen. In der Dunkelheit stolperte er über den gefurchten Boden. Die Mondsichel war ein blasser Fleck in den Wolken, der kein Licht spendete. Ein paar Schritt vor dem Brunnen blieb er wie angewurzelt stehen.
Am Brunnen stand ein Mädchen und schaute zu den Hütten hinüber. Das Haar hing ihr wirr ums Gesicht. Ihr Kleid triefte vor Nässe. Sie sah vierzehn oder fünfzehn Jahre alt aus. Das Mädchen stand vollkommen reglos. Auf dem Boden um sie bildete sich eine Pfütze. Ihr Blick war erfüllt von stummer Verzweiflung.
Norbert hielt den Atem an. Ein Gefühl wie von kalten Fingern rieselte ihm den Nacken herab. Es war ihm, als stünde er unter Zwang. Er konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden.
„Kannst du sie sehen?“ Die tiefe, warme Stimme ertönte unmittelbar hinter Norbert.
Norbert fuhr herum. Der Fremde im Kapuzenumhang stand hinter ihm. Er hatte die Kapuze abgestreift. Dichtes, dunkles Haar umgab sein Gesicht. Er deutete zum Brunnen. Norbert nickte stumm.
„Wer ist sie?“ flüsterte er.
„Die Köhlershofener erzählen, sie habe sich vor zwanzig Jahren in den Brunnen gestürzt, weil ein durchreisender Junker, in den sie sich verliebt hatte, weitergezogen sei, ohne sie mitzunehmen. Ich denke aber, es wird kein Junker gewesen sein, sondern irgendein Meierssohn aus Altenweil. Mag sein, dass sie sich gar nicht selbst ertränkt hat, sondern der Meierssohn hat nachgeholfen, als herauszukommen drohte, dass sie von ihm schwanger war.“
Norbert betrachtete die verlorene Erscheinung. Er meinte, ihren Schmerz körperlich zu spüren. Vorsichtig ging er einen Schritt auf sie zu. Ihm war, als wandte sie den Kopf ein wenig in seine Richtung.
Der Fremde hielt ihn am Arm fest. „Lass sie. Sie nimmt uns nicht wahr. Es ist gefährlich, die Toten zu stören.“
„Manchmal nehmen sie einen doch wahr,“ flüsterte Norbert.
Er musste an die Großmutter denken. Da war wieder die Wut, die jedes Mal gekommen war, wenn der Vater ihn von Großmutters Lehnstuhl weggezerrt hatte. Die ihn überkommen hatte, als Vater ihm vom Elbenholz erzählt hatte – und von der Smeta.
Er starrte zu dem Mädchen hinüber. „Ich werde ein Krieger, wie Beowulf. Dann räche ich alles Böse, was in Wildenbruch geschehen ist. Und was ihr passiert ist, auch!“
Der Abenteurer, wie der Vater ihn genannt hatte, nahm Norbert bei den Schultern. In der Dunkelheit waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.
„Da werden dir Kriegskünste nichts nützen. Lerne lieber, mit deiner Begabung umzugehen. Es ist keine Krankheit, Junge. Du bist hellsichtig. Nur wenige Menschen sind das.“
„Das sagt Tante Leika auch,“ murmelte Norbert.
Er wand sich, aber der große Mann packte ihn nur fester an den Schultern.
„Statt ein Kriegsmann zu werden, solltest du zu einem Lehrmeister gehen, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult. Hör auf meinen Rat: Geh bei Anton Dreyfuß in die Lehre, dem dein Vater wer weiß was aus dem Grenzwald anschleppt.“
„Er bringt ihm Elbenholz.“
„Ich dachte mir so was. Sag Dreyfuß, Lars Wagenknecht hätte dich geschickt. Dann wird er dich aufnehmen.“
Der Fremde ließ Norbert los. Norbert betrachtete die Silhouette des Mannes in der Dunkelheit. Warum wollte der Abenteurer ihn zu dem sonderbaren Gelehrten schicken? Was hatte er davon?
„Was machst du hier? Wer bist du?“
Der Fremde schnaufte verächtlich. „Einer von den Wilddieben, die die Kriegsknechte suchen. Aber sag‘s ihnen nicht, sonst müssten sie versuchen, mich gefangenzunehmen und aufzuhängen.“
Читать дальше