1 ...7 8 9 11 12 13 ...27 Die Hand des Fremden spielte mit dem Schwertknauf. „Und die armen Teufel wollen lieber heil und in einem Stück aus Köhlershofen wegkommen.“
„Vater sagt, du bist ein freier Abenteurer.“
„Mag sein,“ brummte der angebliche Wilddieb.
Er wies in Richtung Herberge. „Da kommt dein Vater vom Stall. Geh, lauf zu ihm. Er braucht nicht zu wissen, dass ich mit dir geredet habe.“
Während der Fremde sich mit raschen Schritten entfernte, schaute Norbert zum Brunnen hinüber. Das Mädchen war nicht mehr da. Auch die Pfütze nicht, die sich unter ihr gebildet hatte.
***
Auf dem Strohlager in der stockdunklen Herberge schwirrte Norbert der Kopf von den Ereignissen der letzten Tage: die atemberaubende Weite der Ebene - die Kriegsknechte mit ihren Waffen und Rüstungen - der geheimnisvolle Abenteurer... die vielen Dinge, die der Vater gesagt hatte - Norberts Wut beim Gedanken an die heftige Ohrfeige... das blaue Licht aus der Gepäcktasche, die Schatten der anderen Welt im diffusen blauen Licht, das entfernte Kreischen der Flöte... das verzweifelte Mädchen am Brunnen... dann das raubtierartige Grollen aus der Grotte und Smetas Schreie...
Die Worte des Abenteurers klangen Norbert in den Ohren: „ Such dir einen Lehrmeister, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult...“
I ch werde kein verrückter Gelehrter, ich werde ein Krieger wie Beowulf!
Norbert wälze sich im muffigen Stroh herum. Auf der Seite der Soldaten hustete jemand rasselnd. Ein anderer murmelte und schmatzte im Schlaf. Norbert konnte lange nicht einschlafen.
***
Der folgende Tag brachte Nieselregen. Über aufgeweichte Wege zogen die beiden Reisenden vorbei an Viehweiden, Hecken und von Bächen durchflossenen Gehölzen. Der Regen rann Norbert übers Gesicht und in den Nacken. Alle paar Schritte musste er Rotz hochziehen. Seine Nase lief, aber Petra störte das nicht. Er wusste, dass Lene das maßlos ärgern würde, wenn er es ihr erzählte. Insgeheim freute er sich schon darauf.
Am Nachmittag sichteten sie Altenweil. Die Stadt lag auf einer Anhöhe. Hoch oben auf einem Felsplateau inmitten der Stadt erhoben sich die grauen Mauern und der wuchtige Rundturm der Markgrafenburg. Norbert blickte atemlos zu den Stadtmauern und Wehrtürmen Altenweils auf. Schiefe, steile Dächer ragten hinter den Mauern hervor.
„Ist das die größte Stadt der Welt, Vater?“
„Du bist ein dummer Junge. Trümmelfurt ist viel größer als Altenweil. Und Klagenfurt, die Kaiserstadt an der Lorn, erst recht.“
Es gruselte Norbert bei der Vorstellung von Riesenstädten, in denen sich Haus an Haus drängte, deren Bewohner vielleicht nie in ihrem Leben gesehen hatten, wie Sonnenstrahlen durchs Blätterdach des Waldes rieselten. Die dunklen Mauern von Altenweil machten ihm Angst.
***
Im Stadttor mussten sie angeben, wie sie hießen und woher sie kamen. Ein Reiter in Kettenhemd und Kettenhaube zahlte den Wachen das Torgeld aus der Lederbörse an seinem Gürtel. Sein Knappe wartete mit den vom Ritt schwitzenden Pferden. Norbert blickte sich mit klopfendem Herzen um. Überall grauer Stein: Das Torgewölbe bestand aus großen Feldsteinen, der Boden war gepflastert. Der düstere Tordurchgang bedrückte ihn.
Als Vater erklärte, sie seien Siedler, durften sie passieren, ohne Torgeld zahlen zu müssen. Sie traten hinaus in die lärmende Gasse. Norbert hatte den Eindruck, die schiefen Fachwerkhäuser mit ihren über die Gasse ragenden Erkern müssten jeden Moment über ihm zusammenstürzen. Der Gestank von verrottenden Küchenabfällen und Fäkalien lag in der Luft. Männer und Frauen in ungefärbter und brauner Kleidung drängten sich um die Auslagen der Läden und versuchten, das Rattern der Handwagen auf dem Pflaster zu überschreien. Norberts erster Impuls war, auf der Stelle durchs Stadttor wieder hinauszurennen.
Hier halte ich es keinen Tag lang aus!
Aber der Vater führte den Esel zügig durch das Gedränge und Norbert musste hinter ihm her, damit er ihn nicht aus den Augen verlor. Drei oder vier Burschen in einem Hoftor grinsten, als er vorbei ging. Boshaft lachend zeigten sie auf seine nackten Füße. Norbert biss die Zähne zusammen. Seine Finger krampften sich um den Wanderstab.
Der Vater bog in eine enge Seitengasse ein. Der Lärm ebbte ab. Nur wenige Alte saßen in den niedrigen Hauseingängen und rauchten. Die Häuser neigten sich bedrohlich über der dämmrigen Gasse zusammen. In Winkeln lagen Haufen von Unrat. Ratten huschten umher. Norbert begriff nicht, wie man in solchem Dreck und solcher Enge leben konnte.
Auf dem höchsten Punkt der Gasse zwängte sich ein Rundturm in die Häuserzeile. Er war kaum zwölf Schritt breit und die oberen Geschosse unter dem steilen Spitzdach sahen so schief aus, das Norbert geschworen hätte, er müsse sofort einstürzen. Es gab nur ein schmales Fenster in jedem Stockwerk. Ein paar Stufen führten zur Pforte hinauf. Über einem eisernen Türklopfer war ein vergilbtes Pergament an die Tür geheftet. Norbert vermutete, dass die verwaschenen Zeichen auf dem Pergament Buchstaben waren. Leika hatte einmal von Büchern erzählt, in denen Buchstaben sich zu Wörtern zusammenfügten, so dass man lesen konnte, was ein anderer in das Buch hineingeschrieben hatte. Norbert hielt es für schiere Zauberei.
Auf Vaters Klopfen wurde die Tür geöffnet und der Vater wechselte ein paar Worte mit jemandem hinter der Tür. Im dunklen Turmeingang konnte Norbert niemanden erkennen.
Der Vater drehte sich zu ihm um. „Warte hier mit dem Esel!“
Er verschwand mit der Gepäcktasche im Turm. Die Pforte schloss sich hinter ihm. Norbert blickte schaudernd zum Spitzdach des Turms hinauf. Er war fest überzeugt, dass in diesem Gemäuer inmitten der lärmenden, verdreckten Stadt nur ein Irrsinniger hausen konnte.
Der Esel stand geduldig, während Norbert von einem Bein aufs andere trat und auf den Vater wartete. Er wünschte, er hätte alles bereits hinter sich, wäre aus der Stadt hinaus und mit dem Vater unterwegs zurück zum Gornwald. Nie, nie würde er hierher zurückkehren, das schwor er sich. Als die Pforte sich öffnete, schreckte er auf. Er hörte den Vater mit jemandem reden. Vater trat aus der Pforte. Der alte Mann, der ihm nachkam, war in ein dunkles Gewand mit weiten Ärmeln gekleidet. Das hohlwangige Gesicht war von Falten durchzogen. Mit Fingern, die Norbert an Klauen erinnerten, schüttelte er Vater die Hand.
Norbert hörte Vater sagen: „Nein, ich bringe ihn zu den Armen Brüdern. Ich will, dass er geheilt wird.“
Der Blick des Alten lag auf Norbert. Kleine, stechende Augen musterten ihn. Norbert wäre am liebsten weggerannt. Der Alte sagte etwas zum Vater, dann schloss er die Turmpforte. Vater kam die Stufen herab und nahm Norbert die Leine aus der Hand.
„Das Kloster liegt am Marktplatz. Heute ist es zu spät, die Mönche aufzusuchen. Wir übernachten im Gasthof „Zum frommen Pilger“. Dorthin gehe ich jedes Mal in Altenweil. Dort ist es billig und gut.“
***
In der Torgasse wurden die Läden zu den Werkstätten der Handwerker geschlossen. Die Gasse leerte sich. Hinter der schwarzen Silhouette der Felsenburg über den Dächern der Stadt leuchtete trübes Abendrot.
Der Marktplatz lag am Ende der Torgasse. Obwohl der Burgfelsen den Platz überschattete, war es hier heller und die Luft kam Norbert reiner vor als in den engen Gassen der Unterstadt. Bei den großen Häusern vor dem Burgfelsen am gegenüberliegenden Ende des Platzes konnte es sich wohl nur um die Schlösser von Grafen oder Fürsten handeln, glaubte Norbert. Aber er wollte den Vater nicht schon wieder fragen. An der Ostseite begrenzte eine hohe Backsteinmauer den Marktplatz. Ein wuchtiges Gebäude ragte hinter der Mauer auf. Zwischen abgeschrägt gemauerten Außenpfeilern blickten oben unter dem Dach winzige Fenster aus den Mauern.
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