»Hat der Anrufer den Täter gesehen?«, fragte Anja mit heftig klopfendem Herzen.
Doch Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Er hörte nur die Schritte.«
»Und wer war dieser Anrufer?«
»Das wissen wir nicht. Er nannte seinen Namen nicht und legte auf, sobald er seine Meldung erstattet hatte.«
»War die Kirchentür offen?«
Der Mordermittler antwortete mit einem Nicken.
Anja überlegte. »Ich nehme an, der Pfarrer hatte jemanden, der ihm den Haushalt geführt hat. Zumindest war das früher so.«
»Ja, er hatte eine Haushälterin. Sie war natürlich zutiefst erschüttert, als sie von dem Mord erfuhr.«
»Und konnte sie euch etwas darüber sagen, mit wem sich der Pfarrer in der Kirche getroffen hat?«
»Nein. Der Pfarrer sagte ihr am Abend nur, dass er noch einen Termin habe. Da es aber nicht ungewöhnlich war, dass er so spät noch Besucher in der Kirche empfing, machte sie sich keine Gedanken darüber und ging früh ins Bett.«
»Aber wenn sie allein im Pfarrhaus war, dann hat sie kein Alibi.«
Englmair schnaubte. »Die Frau ist Ende fünfzig, außerdem geradezu winzig und schmächtig. Sie wäre nie im Leben dazu fähig gewesen, den Pfarrer dermaßen zuzurichten.«
»Vielleicht hat sie ihn überrumpelt. Er rechnete bestimmt nicht damit, dass seine liebe kleine Haushälterin ihn abstechen könnte.« Anja wusste selbst, wie weit hergeholt das war. Außerdem fühlte sie sich mies, weil sie den Verdacht gegen eine unschuldige Frau schürte, die ihres Wissens nichts getan hatte, womit sie das verdient hätte. Doch sie wollte einfach nur Zweifel sähen und deutlich machen, dass es auch andere Verdächtige gab, wenn man nur nach ihnen suchte, um damit von ihrer eigenen Schuld abzulenken.
Aber der Mordermittler sprang nicht darauf an. »Laut vorläufigem Bericht des Rechtsmediziners traf die Messerklinge als Erstes die linke Schulter des Opfers und drang dabei nicht einmal sehr tief ein. Der Geistliche wurde durch diese oberflächliche Verletzung kaum beeinträchtigt und hätte sich einem Angreifer, dem er körperlich überlegen war, leicht erwehren können. Vor allem, weil die Haushälterin mindestens einen ganzen Kopf kleiner als er und wesentlich leichter war. Außerdem wurden die beiden weiteren Stiche nach Aussage des Pathologen mit einer Kraft ausgeführt, die eine Frau ihrer Statur und ihres Alters definitiv nicht besitzt.«
»Was ist mit …« Anja zuckte mit den Achseln. »… dem Mesner? Hat der ein überzeugendes Alibi?«
»Hat er. Er saß mit seiner Frau vor dem Fernseher. Außerdem hatte er absolut keinen Grund, den Pfarrer zu töten.«
»Wie heißt der Mann?«
»Das geht dich nichts an!«, sagte Englmair und sah Anja streng an. »Du bist zwar eine geschätzte Kollegin, und ich traue dir, wie ich schon mehrmals sagte, nicht zu, jemandem kaltblütig die Kehle durchzuschneiden, vor allem keinem katholischen Priester. Dennoch stehst du, machen wir uns nichts vor, vor allem aufgrund der Indizienlage am Tatort und des Umstands, dass du den Pfarrer kanntest, als du ein Kind warst, unter Tatverdacht. Also halte dich gefälligst aus unseren Ermittlungen heraus und von allen Personen fern, die wir befragen müssen. Wenn Toni Wind davon bekommt, dass unsere einzige Verdächtige die Nase in unseren Mordfall steckt und möglicherweise mit Zeugen spricht, beantragt er umgehend einen Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr. Und allein auf Grundlage der Beweise und des Fehlens anderer Verdächtiger dürfte es ihm momentan vermutlich nicht einmal besonders schwerfallen, diesen auch zu bekommen. Hast du verstanden?«
Anja nickte. »Verstanden.«
»Wenn du etwas über die Ermittlungen wissen willst, dann kannst du mich anrufen. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, selbst zu ermitteln.« Englmair sah auf seine Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich zurück, sonst wird Toni noch misstrauisch, fragt sich, wo ich so lange bleibe, und kommt nachsehen.«
Anja bedankte sich bei ihm. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, warfen sie ihre vollen Pappbecher in den Müll und gingen in verschiedenen Richtungen davon.
IX
Als sie in ihr Büro zurückkehrte, war Braun nicht mehr da. Während Anja Platz nahm, fragte sie sich unwillkürlich, ob er vielleicht einen interessierten Blick in die beiden Aktenordner geworfen hatte, die noch immer auf ihrem Schreibtisch lagen. Sie glaubte es allerdings nicht, denn bislang hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, dass er besonders neugierig wäre. Im Gegenteil. Wenn es um die Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen ging, zeigte er sich eher desinteressiert.
Immerhin konnte sie jetzt in aller Ruhe telefonieren und die Namen überprüfen, die sie sich beim Studium der beiden Akten notiert hatte.
Sie hob den Hörer ihres Bürotelefons ans Ohr und wählte die Nummer von Angelina Kreuzer, einer Bekannten aus der Abteilung Personal des Polizeipräsidiums. Nach der Begrüßung unterhielten sie sich zunächst ein paar Minuten über gemeinsame Bekannte und belanglose Dinge, bevor Anja auf den eigentlichen Anlass ihres Anrufs zu sprechen kam und die Namen von ihrem Notizzettel nannte.
Angelina fragte nicht nach, aus welchem Grund Anja Informationen über die genannten Personen benötigte, sondern überprüfte sie kurzerhand mithilfe ihres Computers.
Einer der beiden Todesermittler, die damals den vorgetäuschten Suizid ihres Vaters untersucht hatten, hieß Stefan Klein. Laut Personalakte war er vor ein paar Jahren pensioniert worden. Angelina nannte Anja die Adresse, unter der er geführt wurde.
Kleins damaliger Kollege hieß Franz Stemmler. Er war allerdings vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und konnte somit von Anja nicht mehr befragt werden. Höchstens mithilfe einer spiritistischen Sitzung , dachte Anja sarkastisch. Noch war sie aber nicht so verzweifelt, dass sie zu derartigen Mitteln greifen musste. Es genügte ihr ohnehin, wenn zumindest einer der beiden Todesermittler ihre Fragen beantwortete.
Hans Baumgartner, der Freund und Kollege ihres Vaters aus der Vermisstenstelle, war ebenfalls aus dem Dienst ausgeschieden. Allerdings schon vor dreiundzwanzig Jahren, unmittelbar nachdem Sabine Schwarzmüller die Leitung der Soko übernommen hatte. Dabei war er damals gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt gewesen. Allerdings konnte Angelina aus den Computerdaten, auf die sie Zugriff hatte, nicht ersehen, aus welchem Grund er aufgehört hatte, sodass Anja auf Spekulationen angewiesen war.
Hatte er wegen der Erfolglosigkeit der Soko oder seiner Absetzung als Leiter alles hingeschmissen? Oder hatte ihn der Suizid des befreundeten Kollegen zu diesem Schritt bewogen? Vielleicht hatte er sich auch selbst eine Mitschuld daran gegeben und war daran zerbrochen. Anja wollte ohnehin mit ihm sprechen. Bei der Gelegenheit würde sie vermutlich auch herausfinden, warum er damals aus dem Dienst ausgeschieden war. Allerdings würde sie ihn ebenso wie ihre Mutter erst dann darüber aufklären, dass ihr Vater ermordet worden war, wenn sie den Täter gefunden und unschädlich gemacht hatte.
Da Angelina inzwischen in ihrem Computer die Daten von Sabine Schwarzmüller aufgestöbert hatte, die Baumgartner an der Spitze der Sonderkommission abgelöst hatte, konzentrierte sich Anja wieder darauf, ihrer Bekannten zuzuhören. Demnach war Schwarzmüller vor achtzehn Jahren zum Kriminalpräsidium Oberpfalz nach Regensburg gewechselt und hatte scheinbar dort Karriere gemacht.
Als Letztes kam der Rechtsmediziner. Doch der war schon damals kurz vor der Pensionierung gestanden und fünf Jahre später gestorben.
Anja bedankte sich und schlug vor, dass sie demnächst auf ihre Kosten zum Essen gehen sollten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, saß Anja ein paar Minuten regungslos da, starrte blicklos auf den Notizzettel mit den fünf Namen, die sie, soweit vorhanden, mit den jetzigen Adressen der Personen ergänzt hatte, und dachte nach.
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