Während Monroe das Foto als solches erkannte, verstand Johnson die Geste falsch. Er vermutete, dass der Deutsche nach seiner Waffe griff, zog seine Waffe und schoss auf Demmelhuber. Der brach tot zusammen.
Erst jetzt erkannten die Engländer Demmelhubers Zustand und waren schockiert. Der Mann sah furchterregend aus, das Gesicht war eine einzige Fratze. Alle hielten sich sofort Tücher vors Gesicht.
„Keiner fasst die Leiche an. Zurück!“, befahl er. „Sofort!“
Monroe geriet in Panik. Demmelhuber musste sich infiziert haben. Monroe musste schnell handeln, vielleicht war es für ihn und seine Kameraden noch nicht zu spät. Er holte den Benzinkanister vom Wagen und begoss die Leiche damit. Monroe suchte in seiner Jacke nach einem Feuerzeug. Das dauerte Johnson zu lange. Er warf seine eben angezündete Zigarette auf die Leiche, die sofort in Flammen aufging. Die Gerüchte um das Serum waren also wahr. Aber um was ging es genau? Hatten sie sich bei ihm angesteckt? Sofort nach ihrer Rückkehr mussten sie sich untersuchen lassen, aber das musste warten. Hatte Demmelhuber die Pläne und das Serum bei sich? Wenn ja, wäre jetzt beides vernichtet. Konnten sie sich darauf verlassen?
Mehrmals gingen sie den Weg ab, den Demmelhuber gegangen war. Hier war nichts.
„Verlieren wir keine Zeit, Männer. Ich rufe Verstärkung. Sollen die sich alles nochmals vornehmen und jeden einzelnen Stein umdrehen.“ Monroe war besorgt. Er hatte nicht nur Angst um seine Gesundheit, sondern war auch für die seiner Kameraden verantwortlich. Als die Verstärkung in Schutzanzügen eintraf, machten sich er und seine Männer auf den Weg zum Arzt, der sie lange untersuchte. Alle waren im Moment in blendender Verfassung, niemand hatte sich augenscheinlich angesteckt. Der Arzt bestand darauf, dass Monroe und seine Männer in Quarantäne blieben, bis wirklich ausgeschlossen werden konnte, dass sie erkrankt waren.
Mehrere Tage durchkämmten die Engländer mit Unterstützung der Amerikaner das ganze Gebiet um den Toten. Weder das Serum, noch die Pläne dafür konnten gefunden werden. Alle trösteten sich damit, dass alles in Flammen aufging. War das so? Keiner konnte sich wirklich sicher sein.
Über 70 Jahre später…
Die Mühldorfer Kriminalbeamten diskutierten über die Anweisung von Rudolf Krohmer, dem Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn. Da kein aktueller Fall vorlag, sollten alte Fälle überarbeitet werden.
„Sie kommen immer wieder mit demselben Mist daher,“ maulte Hans Hiebler. Der 55-Jährige hasste stupide Büroarbeit und hatte keine Lust darauf, staubige Akten zu wälzen, während sich draußen noch die letzten warmen Tage des ansonsten so traurigen Sommers ankündigten. Die Aussicht darauf, die wenigen sonnigen Tage im Büro zu verbringen, demotivierten ihn.
„Hans hat Recht,“ sagte Leo Schwartz. Auch der 51-jährige gebürtige Schwabe hatte keine Lust auf die Arbeit.
„Ich darf doch sehr bitten!“, sagte Krohmer ernst, wobei er einen verächtlichen Blick auf Leos T-Shirt warf. Über die Abbildungen von Rockbands hatte er sich längst gewöhnt, aber diese Freiheitskämpfer in den letzten Wochen, deren Konterfei von knallbunten Symbolen unterstrichen wurden, kränkten seine Augen.
„Ich habe gehört, dass die Kollegen einen interessanten Fall bearbeiten,“ sagte Werner Grössert, der nichts gegen Aktenarbeit einzuwenden hatte. Allerdings interessierte ihn das, was er vorhin auf dem Flur aufgeschnappt hatte, sehr viel mehr. „Es geht um Diebstahl und Schmuggel von Heiligenfiguren, die vermehrt in unserer Gegend auftreten. Wir sollten die Kollegen unterstützen,“ sagte der 40-Jährige voller Überzeugung. Wie immer trug Werner Grössert einen modischen Anzug mit Hemd, Weste und Krawatte und hob sich rein optisch sehr von Leo und Hans ab, die hauptsächlich in bequemer Freizeitkleidung zum Dienst erschienen. Warum auch nicht?
„Um was geht es dabei?“, wandte sich Leo an seinen Vorgesetzten.
„Es stimmt, was Herr Grössert sagte. Eine Diebesbande hat sich offenbar darauf konzentriert, Heiligenfiguren zu klauen, wobei das Material nicht wichtig zu sein scheint. Die Diebstähle betreffen nicht nur unsere Gegend, die Bande agiert im gesamten süddeutschen Raum. Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, die sich seit Monaten damit herumschlagen müssen.“
„Sind die Figuren so wertvoll, dass sich ein Diebstahl lohnt?“
„Nein, eben nicht. Das ist es, was den Fall so kompliziert macht. Es scheint auch völlig gleichgültig zu sein, wer dargestellt wurde. Ich hoffe, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es wird nicht mehr lange dauern und die Presse wird hellhörig. Können Sie sich vorstellen, was dann los ist?“, stöhnte Krohmer.
„Gerade deshalb sollten wir die Kollegen unterstützen,“ wiederholte Werner. Leo und Hans stimmten zu. Dieser Fall war sehr viel verlockender als trockene Aktenarbeit.
„Meinetwegen,“ brummte Krohmer.
„Wer bearbeitet den Fall?“
„Asanger und Stumpf.“
Leo stöhnte auf. Ausgerechnet Asanger! Mit ihm war er mehrfach aneinandergeraten, die beiden waren zu unterschiedlich. Tobias Asanger war 42 Jahre alt und wollte auf der Karriereleiter bis ganz nach oben kommen. Das war nicht verwerflich, wenn er dabei nicht so plump und hinterfotzig vorgehen würde. Er verkaufte Ideen und Erfolge anderer als seine eigenen. Dabei überging er Kollegen, die auch deshalb nicht scharf darauf waren, mit ihm zusammenzuarbeiten. Joachim Stumpf war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der 48-Jährige war immer höflich und hielt sich gerne zurück. Er war nicht fürs Rampenlicht geschaffen. Außerdem hatte Stumpf eine Vorliebe für warme Leberkäs-Semmeln, von denen sich der Junggeselle fast ausschließlich ernährte. Immer und überall musste man zur Nahrungsaufnahme anhalten. Metzgereien liebten Joachim Stumpf, aber Kollegen konnten irgendwann den Geruch von warmen Leberkäs-Semmeln nicht mehr ertragen. Asanger reagierte gereizt auf die Marotte seines Kollegen, was diesen aber nicht störte. Was blieb den beiden anderes übrig, als sich zusammenzuraufen? Niemand wollte mit ihnen zusammenarbeiten. Also lag es auf der Hand, dass sie irgendwie miteinander auskommen mussten.
Krohmer bat Asanger und Stumpf ins Besprechungszimmer. Auch jetzt hatte Stumpf eine Leberkäs-Semmel in der Hand. Deren Geruch griff schnell um sich und füllte den Raum. Nach wenigen Minuten knurrte Leos Magen. Er hatte heute verschlafen und noch nichts gegessen.
„Wie weit sind die Ermittlungen im Fall der Heiligenfiguren?“
„Bisher gibt es nicht viel,“ sagte Asanger und öffnete die dünne Akte. „Insgesamt wurden in den letzten vier Monaten in unserem Zuständigkeitsbereich 68 Figuren gestohlen.“
„68 Stück?“, rief Leo. „So viele? Alle aus Kirchen?“
„Natürlich nicht. Auch aus kleineren Kapellen, von Marterln und sogar aus Privathaushalten wurden diese Figuren gestohlen. Bevor die Bande bei uns zuschlug, agierte sie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.“
„Wie viele geklaute Figuren werden den Dieben bisher insgesamt zugerechnet?“
„527 im süddeutschen Raum. Und das sind nur die, die der Polizei gemeldet wurden. Wir gehen von einer sehr viel höheren Stückzahl aus. Vermutungen nach liegt die Zahl bei über siebenhundert Stück.“
„Es steht außer Frage, dass es sich um dieselben Täter handelt?“
„Ja. Die Diebe treiben ein Spielchen mit den Opfern und der Polizei. An jedem Ort, wo eine Figur geklaut wurde, hinterlassen sie ein Guatl, wobei der Geschmack variiert.“
„Ein was?“ Leo verstand kein Wort.
„Lernen Sie endlich bayerisch Herr Schwartz! Ein Guatl ist ein Bonbon. Hier sind einige Fotos.“
Tatsächlich sah man darauf verschiedene Bonbons.
„Konnten Sie die Spur der Bonbons verfolgen?“
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