„Ab nächste Woche Montag wird die N1 in Dora gebaut,“ wies von Braun an. „Ja, ich weiß, dass das Schwachsinn ist, aber die Anweisung kommt von oben. Ich fahre nach Berlin und spreche mit Speer, vielleicht kann ich ihn doch noch umstimmen. Sobald ich einen anderslautenden Befehl bekomme, melde ich mich umgehend. Bis dahin gilt der aktuelle Befehl, die N1 zu bauen. Kümmern Sie sich darum.“
Von Braun stürmte wütend aus dem Zimmer. Alle sahen vom Fenster aus zu, wie er davonfuhr. Von Braun wollte nach Berlin und die Oberste Heeresleitung umstimmen. Ob ihm das gelang? Mooser selbst hatte dem Befehl zunächst widersprochen und biss auf Granit. Alle Hoffnung lag auf der konzentrierten Produktion der Me262 und dieser Bombe, um deren Produktion er sich nun kümmern musste.
Mooser übergab Demmelhuber das Serum. Alle Umstehenden waren erleichtert, als sie zusahen, wie der Glasbehälter behutsam eingewickelt wurde und im Lederetui verschwand.
„Vergessen Sie bitte nicht das Serum im Fahrzeug,“ wiederholte Demmelhuber.
„Sie gehen mir mächtig auf die Nerven! Ich sagte bereits mehrfach, dass ich mich darum kümmere,“ schrie Mooser wütend.
Sebastian Demmelhuber wurde ein kleines Zimmer in der Mannschaftsunterkunft zugeteilt. Die Einrichtung war spartanisch, aber ausreichend. Sein Aufenthalt in Peenemünde war aufregend. Alles war aufregend, seit er von der russischen Front zurückbeordert wurde. Das war sein großes Glück gewesen, denn die Lage dort war katastrophal. Er hatte viele seiner Kameraden sterben sehen und noch niemals vorher hatte er so großen Hunger verspürt. Die Brutalität einiger Kameraden hatte ihn anfangs erschreckt und er hatte mehrere Meldungen gemacht, die alle ins Leere liefen. Je größer seine eigene Verzweiflung und Not war, desto mehr sank auch seine eigene Hemmschwelle, wofür er sich heute schämte. Ob das an dem Pervitin lag, das an alle Kameraden ausgegeben wurde? Möglich. Durch dieses Medikament war das Leben als Soldat leichter. Pervitin wurde Panzerschokolade, Stuka-Tabletten, Hermann-Göring-Pillen oder Fliegermarzipan genannt. Das Mittel diente zur Dämpfung des Angstgefühls, sowie zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit und war bei allen Soldaten, Piloten und Fahrzeugführern beliebt. Es ging das Gerücht um, dass man davon abhängig oder gar krank werden konnte, aber das interessierte kaum jemanden. Mit Pervitin war das Leben als Soldat leichter und nur das zählte.
Aber das lag hinter Sebastian Demmelhuber. Er war jetzt hier in Peenemünde und konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Bei einem Einsatz an der russischen Front hatte er großen Mut bewiesen und acht Kameraden in Sicherheit gebracht, wofür er die Tapferkeitsmedaille verliehen bekam, die er mit Stolz trug. Das hatte großen Eindruck auf seinen Vorgesetzten von Michel gemacht, der ihn lobend erwähnte. Das war seine Fahrkarte für diesen Einsatz gewesen. Wäre er damals nicht so mutig gewesen, wäre er vermutlich längst tot. Nachts verfolgten ihn schreckliche Bilder, weshalb er nicht mehr gerne schlief. Er hoffte inständig, dass er irgendwann mit den Bildern leben konnte. Jetzt war nicht der Moment, sich Gedanken darüber zu machen. Seine Aufgabe in Peenemünde war sehr wichtig. Er hatte die endgültigen Pläne überbracht und hatte das Wundermittel dabei, womit die neue Bombe bestückt werden sollte. Nur Mooser und drei seiner engsten Mitarbeiter wussten davon, und dabei sollte es auch bleiben. Die neue N1-Bombe unterlag strengster Geheimhaltung. Das war die große Hoffnung, auf die die deutsche Führung baute. Der Bau des Bunkergeländes mit dem Decknamen „Weingut I“ bei Mühldorf lief auf Hochtouren und war für Demmelhuber persönlich jetzt schon ein Erfolg. Nicht mehr lange, und er konnte wieder bei seiner Familie leben, denn er selbst wurde in Mühldorf geboren und wuchs dort auf. Vor zwei Jahren hatte er geheiratet, seine Tochter wurde letztes Jahr geboren. Er kannte die kleine Erika nur von Bildern, die ihm seine Frau an die Front geschickt hatte. In zwei Wochen konnte er sie endlich sehen, sie fühlen, riechen und endlich ein Vater für sie sein. Wie würde er seiner Frau begegnen, die er kaum kannte? War die Zuneigung noch so groß, dass sie es schaffen würden, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Ganz sicher. Warum nicht?
Durch das plötzliche Aufheulen der Sirenen erschrak er. Ein Luftangriff! Wo war der nächste Luftschutzbunker? Hektisch suchte er in seinem Zimmer nach dem Plan, den Mooser erwähnt hatte. Aber er fand keinen. Er musste raus hier, und zwar so schnell wie möglich. Er nahm seine Tasche mitsamt dem Serum und der dazugehörigen Anleitung; er orientierte sich an den anderen, die in eine Richtung liefen. Die ersten Bomben fielen. Eine Druckwelle riss ihn zu Boden. Er rappelte sich auf und fiel gleich darauf wieder hin. Um ihn herum herrschte Chaos. Der beißende Qualm nahm ihm die Luft. Der Wagen! Hatte Mooser Wort gehalten? War die Kiste mit den Ampullen in Sicherheit gebracht worden? Er vergaß seinen persönlichen Schutz und suchte nach seinem Wagen. Hier hatte er den Wagen abgestellt, ganz sicher. Aber wo war er? Hektisch suchte er das ganze Areal ab, wobei er die Bomben der Tiefflieger nicht mehr wahrnahm. Auf dem Boden lag ein Stück Holz, das eindeutig von seiner Kiste stammte. Verdammt! Mooser hatte sein Wort nicht gehalten. Dann entdeckte er das Wrack seines Wagens, von dem nicht mehr viel übrig war. Sofort hielt er sich ein Tuch vors Gesicht, er durfte die Luft nicht einatmen, das würde seinen Tod bedeuten.
Seine Gedanken galten nur dem Schutz des Serums, das sich zusammen mit einer Liste der Inhaltsstoffe in seiner Tasche befand. Als der Jude Schönfeld im KZ Sachsenhausen das Serum endlich fertiggestellt hatte, jagte er das Labor in die Luft, wobei auch Schönfeld ums Leben kam. Nur dieses Muster, die Liste der Inhaltsstoffe und die Ampullen konnten gerettet werden. Und jetzt gab es nur noch die klägliche Menge in seiner Tasche. Wie viele Bomben konnten mit dem Rest bestückt werden? Es war klar, dass das viel zu wenig sein würde. Gab es die Möglichkeit, anhand der Liste der Inhaltsstoffe die genaue Zusammensetzung herzuleiten? Ganz sicher konnte man das. Demmelhuber umklammerte die Tasche. Um ihn herum brannte es und der Qualm nahm ihm die Sicht. Wo waren die anderen? Er war auf sich allein gestellt und beschloss, einfach loszulaufen. Wohin er lief, wusste er nicht. Er wollte nur weg. Er nahm wahr, dass die Flugzeuge in Scharen über Peenemünde flogen, der Lärm war ohrenbetäubend. Die Detonationen wurden nicht weniger. Demmelhuber rannte um sein Leben, wobei er mehrmals nur knapp dem Tode entkam. Leichen und Leichenteile säumten seinen Weg, Verwundete riefen um Hilfe. Er konnte nicht helfen, er musste sich und den brisanten Inhalt in seiner Tasche aus der Gefahrenzone bringen. Die Augen der Verwundeten sahen ihn flehend an, aber er musste sie ignorieren. Auch diese Bilder würden ihn in den Nächten nicht mehr in Ruhe lassen. Er rannte unvermittelt weiter, seine Aufgabe war zu wichtig. Nach zwei Stunden hatte er es geschafft, er war aus der Gefahrenzone. War er das wirklich? Wie viel hatte er von dem Serum abbekommen? Welche Auswirkungen hatte es? Das war Demmelhuber im Moment gleichgültig. Jetzt galt es, den Inhalt seiner Tasche so schnell wie möglich nach Mühldorf zu bringen. Dort würde man sicher wissen, was zu tun war.
Sebastian Demmelhuber war längst im Fokus der Alliierten. Vor allem die Engländer machten Jagd auf ihn. Als klar war, dass er sich in Peenemünde aufhielt, mussten sie ihn unbedingt stoppen. Auch deshalb wurden die Luftangriffe verstärkt. Als die Angriffswelle vorbei war, brauchten britische Agenten zwei Tage um festzustellen, dass Demmelhuber nicht unter den Opfern war. Er war ihnen entwischt.
Drei Tage später war Demmelhuber endlich in Mühldorf angekommen. Die Reise von Peenemünde bis hierher war ein Abenteuer gewesen. Nur mit viel Mühe konnte er einen Wagen beschaffen, wobei der Sprit sehr viel schwieriger zur organisieren war. Viele Brücken und Straßen waren unpassierbar gewesen, wodurch er große Umwege in Kauf nehmen musste. Trotzdem hatte er es geschafft. Die Fahrt durch Mühldorf erfüllte ihn mit einem wohligen Gefühl. Hier vorn war er zur Schule gegangen, dort wohnten seine Großeltern. Es hatte sich in den zwei Jahren, seit er fort war, nicht viel verändert. Dort hinten, nur vier Straßen weiter, lebten seine Frau und seine kleine Tochter. Wie gerne wäre er zuerst nach Hause gefahren, aber das durfte er nicht. Er musste das Serum und die Papiere dem Kommandanten im Mühldorfer Hart übergeben, der dann die weiteren Schritte veranlassen würde.
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