Sein Husten wurde stärker, er hatte Probleme beim Atmen. Er bremste an der Hauptstraße und ließ eine Kolonne Wehrmachtsfahrzeuge passieren. Er betrachtete sein Gesicht im schmutzigen Rückspiegel. Was war das für ein entsetzlicher Ausschlag?
Als er im Mühldorfer Hart eintraf, blickte er sich erschrocken um. Das war alles, was bisher gebaut wurde? Die Anlage befand sich noch mitten im Bau und nichts deutete darauf hin, dass hier in Kürze Flugzeuge gebaut werden konnten. Nur sieben der zwölf geplanten Außengewölbe waren bisher fertig. Noch bevor Demmelhuber mit einem Verantwortlichen sprechen konnte, fuhren mehrere Lkw vor. Es folgte eine hektische Betriebsamkeit, die er nicht verstand.
„Was ist hier los?“, fragte er einen Gefreiten.
„Die Amerikaner sind nicht mehr weit weg. Hier wird alles evakuiert.“
„Und was ist mit der Produktionsstätte? Was ist mit der Me262?“
„Hast du es immer noch nicht verstanden? Der Krieg ist vorbei! Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!“
Demmelhuber konnte es nicht fassen. War wirklich alles zu spät? Gab es für das Deutsche Reich keine Hoffnung mehr? Was würde werden? Ging jetzt alles in Feindeshand über? Nein! Das konnte und durfte nicht sein! Die vielen Opfer konnten nicht umsonst gewesen sein. Er suchte nach einem Verantwortlichen, um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Die Me262 musste gebaut werden, er hatte doch das Serum und die Liste mit den Inhaltsstoffen! Für einen Mann mit chemischen Fachkenntnissen dürfte die Herstellung des Serums eine Kleinigkeit sein.
Niemand wollte mit ihm sprechen, alle wimmelten ihn ab. Er fand ein Telefon und brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich eine Verbindung nach Berlin bekam. Wiederholt verlangte Demmelhuber, einen Verantwortlichen zu sprechen.
„Verstehen Sie nicht?“, schrie der Mann ihn an. „Hier ist niemand mehr, alle sind abgehauen oder haben sich ergeben.“
„Ergeben?“
„Die Russen sind in Berlin, die Amerikaner und Engländer haben bereits große Teile des Deutschen Reiches besetzt. Der Krieg ist vorbei.“
Jetzt hatte Demmelhuber endlich verstanden. Resigniert legte er auf und beobachtete das Chaos um sich herum. Sollte er nicht einfach auf einen der Lkw aufspringen? Nein! Auch für ihn war der Krieg vorbei. Er setzte sich in den Wagen, startete, aber er kam nur wenige Meter weit. Der Tank war leer. Hier in diesem Chaos Sprit zu finden, war zwecklos. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nur eine Stunde trennte ihn von seinen Lieben.
Ihm ging es immer schlechter. Er begann, stark zu schwitzen. Der Ausschlag hatte sich über den Körper ausgebreitet. Sein Körper juckte fürchterlich und die dicken Pusteln begannen zu nässen. Seit er losgelaufen war, musste er sich mehrfach übergeben.
Demmelhuber kam nicht weit. In einem Waldstück des Mühldorfer Harts hielt unweit ein Jeep: Die Amerikaner waren bereits hier! Nein, das waren Engländer! Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allem das Serum und die Liste der Inhaltsstoffe in Sicherheit bringen. Trotz seiner zunehmenden Schwäche rannte er los, aber zwei Uniformierte liefen ihm hinterher; auch der Jeep folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich rasch. Nicht mehr lange, und sie hatten ihn. Das Serum und die Liste durften nicht in Feindeshand gelangen. In Berlin bekam er den Befehl, beides mit seinem Leben zu verteidigen. Und Befehl war Befehl. Wohin damit? Mit zitternden Händen öffnete er die Mappe und riss die wichtige Seite heraus. Dann nahm er den Glasbehälter aus dem Lederetui und wickelte ihn aus den Tüchern. Er steckte nur die eine Seite und das Serum ein, alles andere warf er in hohem Bogen weit von sich. Es war ihm klar, dass die Verfolger ihn beobachteten, darauf hatte er es abgesehen.
„Das muss er sein,“ rief Captain Monroe zu seinen Männern. Er hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Demmelhuber und dieses wahnsinnige Vorhaben zu stoppen. „Hinterher, Männer!“ Er selbst fuhr den Jeep und ließ Demmelhuber nicht mehr aus den Augen. Er lenkte den Jeep waghalsig durchs Gelände und riskierte einen Unfall. Das war gleichgültig. Sollte Demmelhuber das Serum bei seiner Flucht verlieren, waren sie sowieso alle dem Tod geweiht, das wussten er und seine Kameraden, als sie sich freiwillig meldeten. Monroe beobachtete, wie Demmelhuber die Tasche weit von sich warf. Sie war offen und der Inhalt verteilte sich übers Gelände. „Dort hinten! Holt die Tasche und sammelt den Inhalt ein!“, befahl Monroe.
„Was ist mit dem Deutschen?“, rief der junge Corporal Johnson.
„Erst die Unterlagen! Den Mann kriegen wir später!“
Während die Engländer die Tasche und den Inhalt einsammelten, rannte Demmelhuber weiter. Wohin mit der Liste und dem Serum? Er konnte sie nicht einfach im Wald verstecken, das war zu gefährlich. Die Verfolger würden jeden Zentimeter absuchen und würden beides finden. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Dann sah er ein Marterl mit einer Marienfigur. Wann wurde diese aufgestellt? Und vor allem warum? Er wusste, dass viele dieser Marterl an Stellen aufgestellt wurden, an denen Familienmitglieder verunglückten. Einige wurden auch aus Dankbarkeit oder als Fürbitten aufgestellt. Der Unterschied war wichtig, denn wenn dieses Marterl für einen Verunglückten errichtet wurde, könnte die Figur hohl sein. Das wusste er von dem Marterl, das sich auf dem Grundstück seiner Großeltern befand, das im Jahr 1832 nach einem tödlichen Unfall eines Kindes errichtet wurde. Die Figur an dem Marterl war hohl, wovon er durch Zufall Kenntnis bekam. Man gab damals persönliche Dinge oder Andenken in den Hohlkörper, was aber in den letzten Jahrzehnten nur noch selten gemacht wurde.
Wie alt war diese Figur da vorn? Das war jetzt nicht wichtig. Er riss die Figur vom Sockel und schüttelte sie. Er drehte und drückte an der Figur, sie war jetzt seine einzige Rettung. Die Engländer hatten seine Spur wieder aufgenommen und kamen näher. Dann spürte er, wie der Fußteil der Marienfigur nachgab. Hektisch drehte er solange, bis das Teil ab war. Die Figur war tatsächlich hohl! Er nahm die verschiedenen Andenken aus der Figur und steckte sie in seine Jackentasche. Dann stopfte er die Liste und das Serum in den Hohlkörper, beides fand gerade so Platz darin. Rasch stellte er die Marienfigur zurück an ihren Platz. Hatten die Engländer gesehen, was er gemacht hatte? Darum kümmerte er sich nicht, sondern rannte weiter.
Captain Monroe war wütend. Genau die Seite, die wichtig war, wurde herausgerissen. Auch das Serum hatten sie nicht gefunden. An dem Befehl und den Anweisungen zum Bau der Bombe war er nicht interessiert. Sein Interesse galt einzig und allein der Anleitung und dem Serum, von dem er nicht wusste, welche Auswirkungen es hatte. Aufgrund des Lederetuis und der Tücher vermutete er, dass Demmelhuber beides immer noch bei sich trug. Dieser hinterlistige Teufel hatte sie getäuscht. Der verdammte Deutsche war sehr gerissen und hatte sich einen zeitlichen Vorsprung verschafft, den sie so schnell wie möglich aufholen mussten. Noch vermutete er die Pläne und das Serum bei Demmelhuber. Er würde nicht so dumm sein, beides im Wald zu verstecken. Es würde ein Leichtes werden, beides zu finden.
Endlich hatten sie ihn aufgespürt und näherten sich ihm. Seine Kräfte schwanden.
Mehrmals versuchte Monroe, ihn zum Aufgeben zu bewegen und kramte alle deutschen Worte aus seinem Gedächtnis, die ihm einfielen. Aber Demmelhuber reagierte nicht.
Sebastian Demmelhuber konnte nicht mehr. Er blieb völlig entkräftet stehen und drehte sich zu den Verfolgern um. Wie konnte er die Engländer davon abhalten, ihn nicht einfach abzuknallen? Es war Krieg und niemand würde sich für seinen Tod interessieren. Er griff in die linke Jackentasche, wo er das Foto seiner kleinen Tochter immer aufbewahrte. Er wollte es hochhalten und damit die Engländer besänftigen.
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