Sich über sich selbst ärgernd riss Marie sich zusammen. Was konnte schon passieren? Matthias brauchte Ruhe. Mit leisen, lockenden Rufen verließ Marie das Zimmer und sah entzückt zu, wie die drei Welpen hinter ihr her purzelten, als folgten sie ihrer Mutter. Offenbar war ihnen egal, ob diese ein Fell hatte oder nicht - Hauptsache, sie sorgte für Milch!
Als Marie schließlich vor dem Haus stand, wünschte sie sich, Matthias doch aufgeweckt und mitgenommen zu haben. Der Wind ächzte in den Bäumen, pfiff um die Ecken der Gebäude, und irgendwo schlug immer wieder eine Tür oder ein Fensterladen. Die drei Welpen schnupperten munter im Hof herum und dachten gar nicht daran, ihr Geschäft zu erledigen. Marie tanzte ungeduldig von einem Bein aufs andere. Die Lichtverhältnisse waren schlecht, da der Mond nur hin und wieder zu sehen war, wenn er nicht gerade von vorbei jagenden Wolken verdeckt wurde.
»Seid Ihr Marie Wolf?«
Die Stimme war direkt hinter ihr, und Marie schrie vor Schreck und machte einen Satz, fuhr herum. Vor ihr stand ein Mann, der schmutzig und ein wenig finster wirkte, und sie wich furchtsam zurück - hatte man ihr jetzt auch hierher einen Mörder geschickt?
»Was wollt Ihr?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Der Mann lächelte beruhigend.
»Verzeiht … ich wollte Euch nicht erschrecken. Magdalena Holzapfel schickt mich, ich komme aus Rothenburg und reise weiter nach Ansbach. Da hat sie mir eine Botschaft mitgegeben, für Matthias und Marie Wolf. Das seid doch Ihr, oder nicht? Sie hat mir beschrieben, wie Ihr ausseht.«
Zögernd nickte Marie. Sie glaubte nicht, dass die Vogtin wusste, wie nah sie und Magdalena sich standen. Elsa Steiner hätte niemanden im Namen der Wirtin geschickt, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen, sondern sie einfach hinterrücks aus dem Weg schaffen lassen.
»Gut!«
Wieder lächelte der Mann, holte einen versiegelten Brief unter seinem Umhang hervor.
»Das ist für Euch.«
Er schickte sich an, wieder davonzugehen.
»Wartet …«, rief Marie ihm nach. »Wollt ihr kein Lager für die Nacht? Es wird bald regnen!«
Der Mann drehte sich noch einmal zu ihr um.
»Nein, vielen Dank, aber ich bin spät dran. Und Regen ist gut … bei Regen treiben sich die wenigsten Strauchdiebe draußen herum!«
Er grinste, zog seinen Hut, verbeugte sich leicht und war auch schon in der Nacht verschwunden.
Mit zitternden Fingern riss Marie den Brief auf. Sie hatte Angst. Es musste etwas geschehen sein. Ging es Magdalena schlechter, lag sie gar im Sterben? Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als Marie die Zeilen der Wirtin im flackernden Licht der Lampe überflog. Was sie dort las, traf sie wie ein Blitz.
»MATTHIAS!«, schrie sie, noch bevor sie auf das Haus zuzulaufen begann, dicht gefolgt von ihren drei Zöglingen.
In Rothenburg krabbelte Irmtraud in ihr Bett. Sie war erschöpft. Walburga war besser gewesen als erwartet und sie war sehr zufrieden. Trotz ihrer Körperfülle war sie sehr beweglich und hatte genau gewusst, wie sie Irmtraud behandeln musste. Und ihr Hunger war fast nicht zu stillen gewesen.
Irmtraud zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Was für sie noch viel interessanter gewesen war, das waren die Enthüllungen über Magdalena und ihre Herkunft. Magdalenas Mutter und Großmutter waren sogenannte Kräuterhexen gewesen und von der Inquisition gejagt worden. Magdalena selber war nur durch pures Glück und der Hilfe einiger Städter entkommen. Damit müsste sich etwas anfangen lassen, überlegte Irmtraud. Vielleicht ließ Magdalena sich erpressen, dass sie dem Vogt ihre wahre Identität verriet, wenn sie ihr nicht das Gasthaus übertrug. Mit diesen zufriedenen Gedanken schlief sie ein.
Matthias fuhr erschrocken hoch. Hatte Marie da gerufen? War sie etwa in Gefahr?
Er sprang aus dem Bett, bereit, sie gegen jeden zu verteidigen, der sie angriff, da polterte sie in das Zimmer, gefolgt von drei kleinen, tapsigen Welpen, die ihr um die Beine strichen.
»Was ist los?«, rief er. »Ist dir was passiert?«
Sie schüttelte nur den Kopf und reichte ihm den Brief.
»Woher hast du den?«, fragte er mit großen Augen.
»Ein Bote hat ihn gebracht, von Magdalena.«
Matthias überflog die wenigen Zeilen.
»Wo ist er?«
»Schon wieder weg, er hatte es furchtbar eilig.«
»Du hast es gelesen?«
Sie nickte.
Matthias ging im Zimmer hin und her, neugierig von den Welpen beäugt. Sie fiepten leise, schienen sie doch zu ahnen, dass etwas nicht in Ordnung war. Marie setzte sich auf den Boden und sofort krabbelten alle drei zu ihr in den Schoß. Matthias sah zu ihr hinunter.
»Ist dir klar, was das heißt?«, fragte er sie.
Marie sah ihn an.
»Der Einzige, der vielleicht meine Herkunft hätte bezeugen können, ist tot«, murmelte sie.
Matthias nickte.
»Nicht nur das. Dieser Mord, und vor allem die Umstände, sie zeigen mir, dass unser Feind uns immer noch nach dem Leben trachtet. Und er meint es verdammt ernst. Popolius wusste scheinbar Bescheid und musste wohl deshalb sterben. Ich muss, so schnell es geht, nach Rothenburg und den Mörder finden und aufhalten.«
Marie sah ihn erschrocken an. Aber er war noch nicht fertig.
»Wenn ich mir das alles genau überlege, dann bist du in Gefahr, aber auch Magdalena, Lotte und alle, die in irgendeiner Art und Weise von dieser Angelegenheit wissen.«
Er kniete sich zu ihr.
»Mir wäre es am liebsten, du bliebest hier. Aber das verstößt gegen das Urteil. Du musst mit mir nach Rothenburg. Am besten morgen noch.«
In diesem Moment krachte lauter Donner und Blitze erhellten das Zimmer. Die Welpen flüchteten unter das Bett, nur einer, ein kleiner, kohlenschwarzer Kerl, lugte heraus und bellte heiser. Matthias musste lachen. Bei jedem erneuten Donner knurrte er und bellte.
Marie sah ihn an.
»So ein tapferer, kleiner Kerl. Ich glaube, er sollte Donner heißen.«
Matthias nickte.
»In Ordnung, aber das da«, er zeigte nach draußen, »ist ein Problem.«
Der Wind hatte erheblich an Stärke zugenommen und pfiff laut durch den Hof. Dazu hatte es zu regnen begonnen. Es schüttete quasi wie aus Eimern.
»Bei dem Wetter können wir nicht reisen.«
Im Wald hatte eine andere Reisegruppe das gleiche Problem. Der Inquisitor und seine Begleitung waren ebenfalls in den Sturm geraten, der im Taubertal wütete. Ferdinand von Ravensburg wurde klar, dass das unselige Wetter die Reise verzögern würde. Einige Pferde waren bereits durchgegangen, und ohne sie konnte man den schweren Wagen nicht bewegen.
Einer seiner Wachleute kam zu ihm, durchnässt bis auf die Haut.
»Eure Eminenz, das wird uns möglicherweise Stunden, wenn nicht Tage, kosten.«
»Warum?«, herrschte der Inquisitor den Mann an.
»Die Wege sind zu schlammig, wir kommen mit dem Wagen nicht durch, selbst wenn wir alle Pferde sofort wieder einfangen. Und wer weiß, wie der Pfad weiter aussieht. Ich werde, sobald der Sturm sich gelegt hat, einige Männer losschicken, die den Weg erkunden und zur Not freimachen werden.«
Von Ravensburg nickte.
»In Ordnung. Aber dieses Wetter«, er hob die rechte Hand und zeigte zum Himmel, »das hat der Teufel geschickt. Er will verhindern, dass wir nach Rothenburg kommen.«
Er stellte sich mitten in den Regen und brüllte laut.
»Satan, ich komme und werde dich wieder in die Tiefen der Hölle jagen. MICH hältst DU nicht auf.«
Wie zur Antwort schlug ein Blitz in eine hohe Eiche unweit des Inquisitors ein und fällte sie. Nur mit einem gewaltigen Sprung konnte von Ravensburg sich in Deckung bringen.
Es krachte laut, als einige Äste des Baumes auf den Wagen schlugen. Der Inquisitor fiel auf die Knie.
»Herr im Himmel, steh mir bei. Dieser Teufel ist stärker als alles, was mir bisher begegnet ist.«
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