Obwohl der Pfarrer bereits einige Prozessionen durch diese Gassen geführt und alle Gebäude mit reichlich geweihtem Wasser bespritzt hatte, waren die Menschen nicht bereit, dort ihr Domizil zu wählen. Nachdem sich dann bei der letzten Prozession einer der Händler nach dem Verlust seines Geldes vor der Prozession mit einem Seil um den Hals aus dem Fenster gestürzt hatte und genau vor Pater Remigius gebaumelt war, mieden die meisten Menschen das Viertel, als sei dort die Pest ausgebrochen.
Man war überzeugt, der Fluch sei echt und man fand niemanden mehr, der bereit war, sich dort anzusiedeln außer einigen Bettlern, die unerlaubterweise in den alten Gemäuern nächtigten.
Auch Marie fühlte sich alles andere als behaglich hier und sie ließ ihren Mann nicht los. Wenigstens war es so nah an der Mauer nicht mehr so windig wie vor der Stadt, sie kamen gut voran.
Schon von weitem sah Marie den Fackelschein der Wachen, die vor dem Fundort der Leiche auf den Scharfrichter warteten. Zu ihrer Überraschung wartete dort auch eine ziemlich verstört aussehende Helga - und Jakob von Scharfenstein. Ihn hätte Marie in Helgas Gesellschaft nicht erwartet, und auch Matthias witterte sofort faules Spiel.
»Was tun die beiden hier?«, wollte er wissen. »Haben sie den Toten auf dem Gewissen?«
Helga schrie entsetzt auf.
»NEIN, oh, nein, Meister Matthias ... wir ... haben ... uns hier in der Werkstatt ... heimlich getroffen. Und dabei habe ich die Leiche entdeckt.«
»Genau so war es!«, pflichtete Jakob ihr rasch bei. Ein Vergewaltigungsvorwurf war auch für ein Mitglied der Oberschicht kein Zuckerschlecken.
Überrascht sah Marie von einem zum anderen - Helga sollte sich mit Jakob getroffen haben? Wo sie so heiß verliebt in den Knecht des Vogtes war? Das glaubte sie nicht.
Auch die Wachen wirkten verwirrt, aber ohne eine Anschuldigung Helgas war eine Anklage wegen Vergewaltigung nicht zu halten, besonders, da der Anblick der Leiche das Kreischen der jungen Frau durchaus erklärte.
»Na gut ...«, knurrte der Hauptmann der Wache. »Dann schert euch weg und seht zu, dass ich euch heute Nacht nicht mehr unter die Augen bekomme, sonst bringe ich euch eigenhändig bei euren Eltern vorbei!«
Wie geprügelte Hunde liefen die beiden in verschiedene Richtungen davon. Marie jedoch entging nicht, dass Jakob ihr über die Schulter einen langen Blick zuwarf, den sie nicht deuten konnte, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Der Hauptmann hob seine Fackel.
»Gehen wir hinein ... ich kenne den Mann nicht, er scheint kein Rothenburger zu sein.«
Zwei Minuten später fragte Marie sich, wie der Soldat das mit Sicherheit sagen konnte. Der Mann war nicht erst kürzlich gestorben, Augen, Nase, Lippen und Ohren waren bereits den Ratten zum Opfer gefallen. Theoretisch hätte es der Vogt sein können und sie hätte ihn nicht erkannt.
Dass der Geruch Helga und Jakob nicht gleich beim Betreten der Werkstatt aufgefallen war, war der Blonden ebenfalls unbegreiflich. Sie wandte sich ab und presste sich die Hand vor Mund und Nase, unterdrückte ein Würgen.
Matthias ging neben dem Toten in die Hocke und durchsuchte seine Habseligkeiten. Er fand nichts, was auf eine Identität hinweisen konnte, jedoch eine Geldkatze mit einigen Münzen.
»Er wurde nicht ausgeraubt«, stellte der Hauptmann stirnrunzelnd fest.
»Vielleicht ist er einfach so gestorben.«
»Welche natürliche Todesart lässt derart viel Blut fließen?«, wollte Matthias wissen und hob den Körper halb an, sodass die große Blutlache, die schon getrocknet und braun geworden war, sichtbar wurde.
»Holt den Chirurgen! Er soll herausfinden, wie dieser Mann gestorben ist!«, befahl er mit fester Stimme und der neue junge Wachmann lief sofort los. Seit seiner ersten Begegnung mit dem Henker hatte er einen Heidenrespekt vor ihm.
In diesem Moment fielen Maries Blicke auf den Arm der Leiche, der in einem merkwürdigen Winkel zum Körper abstand und sie keuchte.
»Matthias … sein Arm! Das ist der Kerl, der uns angegriffen hat!«
Matthias sah seine Frau an, folgte ihrem Blick auf den Arm. Tatsächlich, der Arm war gebrochen. Er tastete ihn ab, fand die Bruchstelle.
»Was in Gottes Namen …?«, flüsterte er.
Er richtete sich auf.
»Hauptmann, das ist ernster, als wir angenommen haben. Dieser Kerl dort«, er zeigte auf die Leiche, »hat vor einigen Tagen versucht, meine Frau zu ermorden. Als ich ihn gestellt habe, hat er mich verletzt, sodass ich beinahe nicht überlebt habe. Wir müssen unbedingt herausfinden, wer dieser Kerl ist, wo er herkam und was er hier wollte. Und warum zum Teufel er meine Frau töten wollte«, fügte er leise hinzu.
Marie hatte sich abgewandt. Sie zitterte wieder. Ihr Verstand weigerte sich, es zu akzeptieren. Matthias sah, dass seine Frau kurz vor einem Zusammenbruch stand und legte die Arme um sie.
»Du musst dich nicht fürchten. Nicht vor dem da. Der kann dir nichts mehr tun.«
»Ja, der nicht. Aber wer steckt dahinter?«
Matthias überlegte.
Sie hatte Recht. Der Überfall war nicht das Werk des Mannes, der dort am Boden lag, er war nur ein Handlanger gewesen. Ein Fremder hätte sich nicht nachts außerhalb der Stadt aufgehalten und rein zufällig versucht, Marie zu töten. Außerdem hatte der Tote den Henker gekannt. Da musste jemand anderes noch seine Finger im Spiel haben.
Seine Gedanken wurden durch die Ankunft des Chirurgen abgelenkt. Nikolaus von Brümme stürmte in die Werkstatt, laut fluchend, wie es seine Art war, wenn man ihn des Nachts aus dem Bett holte. Vor allem, wenn eine Hure bei ihm war.
»Was gibt es denn so Dringendes? Ich hatte gerade einen wichtigen Eingriff.«
Der Wachmann, der den Arzt geholt hatte, kniff ein Auge zusammen und deutete mit den Händen an, dass er den Chirurgen wohl gerade beim Liebesakt erwischt hatte.
Marie wurde leicht rot, aber innerlich musste sie grinsen, waren sie und Matthias doch ebenfalls bei dieser Tätigkeit unterbrochen worden. Matthias zeigte nur stumm auf die Leiche.
»Ach, Meister Matthias, was ist denn daran eilig? Der läuft nicht mehr weg.«
Matthias klärte ihn kurz über die Umstände auf. Nikolaus von Brümme grunzte, dann machte er sich an die Untersuchung.
Wenige Augenblicke später stutzte er, öffnete das Hemd des Toten und grunzte erneut.
»Na sowas. Da haben wir es ja. Meister Matthias! Kommt einmal.«
Matthias beugte sich neben den Chirurgen. Der deutete auf eine Stelle im Brustkorb.
»Da. Ein sauberer, glatter Stich. Genau zwischen den Rippen ins Herz gestochen. Schnell und fast schmerzlos.«
Er richtete sich wieder auf.
»Bevor der Mann gewusst hat, dass er erstochen wird, war er schon tot.«
»Wer kann so etwas getan haben?«
Der Chirurg zuckte mit den Schultern.
»Das weiß ich nicht. Das kann jeder, der eine gewisse Ahnung von Anatomie, etwas Kraft und ein gutes Messer hat sowie über etwas Geschicklichkeit verfügt. Und wie ich das sehe, war der Mann außerstande, sich zu verteidigen.«
Matthias nickte. Also quasi halb Rothenburg kam in Frage.
»Wie lange ist er schon tot?«
»So einige Tage würde ich sagen. Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, mein Eingriff wartet.«
Sprach´s und verschwand. Matthias erhob sich ebenfalls.
»Schafft den Leichnam weg, Hauptmann. Jetzt können wir nichts mehr tun. Ich berede das später mit dem Schreiber.«
Er nahm seine Frau an die Hand und ging mit ihr nach Hause. Der Regen hatte nachgelassen.
Als sie daheim ankamen, sah Marie ihn verschmitzt an.
»Ein Eingriff??«
Matthias grinste.
»So nennt er es immer, wenn er eine der Huren bei sich hat. Und scheinbar hat er jede Nacht einen solchen Eingriff.«
Sie trat auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
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