Edgar Wallace
John Flack
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Impressum
Ehrlich gesagt ist es ungehörig, wenn nicht sogar gesetzwidrig, daß die wenigen Personen, die das traurige Vorrecht besitzen, im Irrengefängnis von Broadmoor aus- und eingehen zu können, auf irgendeinen auffallenden Insassen besonders aufmerksam gemacht werden. Es war dann meistens jemand, der sehr berüchtigt gewesen war, oder dessen Verbrechen das allgemeine Interesse in höchster Spannung gehalten hatten, bis Gerichtsärzte und Gerichtshof ihn nach diesem Platze ohne Hoffnung verbannten.
Aber häufig wurde auf John Flack hingewiesen, wie er über den Gefängnishof schlich, die Hände auf dem Rücken, das Kinn auf die Brust gesenkt, ein langer, dürrer, alter Mann in seinem schlechtsitzenden Anzug aus grauem Stoff, der mit niemand sprach, und an den niemand das Wort richtete.
»Das ist John Flack ... Der Flack; der gerissenste Verbrecher der Welt ... »Klaps-John Flack« ... Neun Morde ...
Gefangene, die wegen Totschlags in Broadmoor gehalten wurden, waren in ihren seltenen, klaren Augenblicken stolz auf den alten John. Die Beamten, die ihn für die Nacht einschlossen und während seines Schlafes beobachteten, hatten wenig zu seinen Ungunsten zu sagen. Niemals gab er Veranlassung zu irgendeiner Störung, und in all den sechs Jahren seiner Gefangenschaft hatte er nicht einmal einen jener Tobsuchtsanfälle gehabt, die so oft einen armen, unbeteiligten Teufel ins Hospital und den rasenden Übeltäter in eine Gummizelle bringen.
Die meiste Zeit verbrachte er mit Schreiben und Lesen, er war eine Art Genie mit der Feder und schrieb mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Hunderte von kleinen Schulheften hatte er mit seiner großen Abhandlung über »Verbrechen« ausgefüllt. Der Gefängnisdirektor ließ ihm seinen Willen, erlaubte ihm, seine Hefte zu behalten, in der Erwartung, diese in gegebener Zeit seinem bereits sehr interessanten Museum einverleiben zu können.
Einmal gab ihm der alte Jack – es war ein außerordentliches Zugeständnis – eines seiner Hefte zu lesen, und der Direktor las und schnappte nach Luft. Der Titel lautete: »Wie raube ich ein Bankgewölbe aus, wenn nur zwei Wächter Dienst haben.« Der Direktor, ein ehemaliger Militär, las und las, hielt zeitweise inne und kratzte sich verblüfft hinter den Ohren; dies Schriftstück in der sauberen, deutlichen Handschrift John Flacks erinnerte ihn lebhaft an einen Divisionsbefehl zum Angriff. Keine Kleinigkeit war zu unbedeutend, um unerwähnt zu bleiben, jede Möglichkeit war vorausgesehen. Es war nicht nur die Zusammensetzung des Betäubungsmittels angegeben, das gebraucht werden sollte, um »den Außenwächter unschädlich zu machen«, es war sogar eine weitere Fußnote beigefügt, die hier wörtlich angeführt werden mag:
»Sollte das Betäubungsmittel nicht zu erhalten sein, rate ich, einen Vorstadtdoktor aufzusuchen und ihm folgende Krankheitserscheinungen anzugeben... Der Arzt wird dann das gewünschte Betäubungsmittel in verdünntem Zustande verschreiben. Man verschaffe sich sechs Flaschen von dieser Medizin und wende dann folgende Methode an, um das gewünschte Betäubungsmittel auszuscheiden ...«
»Haben Sie viel von dieser Sorte geschrieben, Flack?« fragte der Beamte erstaunt.
»Wie das?« John Flack zuckte seine mageren Schultern. »Das mache ich zu meinem Vergnügen, bloß um mein Gedächtnis zu üben. Ich habe schon dreiundsechzig Bücher über das gleiche Thema geschrieben, und da gibt es keine Verbesserung mehr. Während der ganzen sechs Jahre, die ich nun hier bin, habe ich auch nicht eine einzige Verbesserung meines alten Systems austüfteln können.«
Scherzte er? War das ein Produkt eines kranken Gehirns? Der Direktor, wie sehr er auch an seine Pfleglinge und deren Eigenarten gewöhnt war, konnte sich keine sichere Meinung bilden.
»Wollen Sie vielleicht sagen, Sie haben ein Lexikon über Verbrechen geschrieben?« fragte er ungläubig. »Wo ist es denn?«
Statt jeder Antwort verzogen sich Flacks schmale Lippen zu einem höhnischen Lächeln.
Dreiundsechzig handgeschriebene Bände stellten das Lebenswerk John Flacks dar. Es war die einzige Leistung, auf die er selbst stolz war.
Als bei einer anderen Gelegenheit der Direktor wieder auf seine außergewöhnlichen schriftstellerischen Arbeiten anspielte, sagte er:
»Ich habe ein großes Vermögen in die Hände irgendeines geschickten Mannes gelegt – vorausgesetzt natürlich,« fügte er nachdenklich hinzu, »daß er ein resoluter Kerl ist, und daß die Bücher bald in seine Hände kommen – in diesen Tagen wissenschaftlicher Entdeckungen ist, was heute neu ist, morgen ja schon überholt.«
Der Direktor hatte seine Zweifel an dem Vorhandensein dieser gefährlichen Bücher, mußte aber kurze Zeit nach dieser Unterhaltung seine Ansicht berichtigen. Scotland Yard, wo man selten, wenn überhaupt jemals, Phantomen nachjagt, sandte Oberinspektor Simpson, einen Mann ohne jede Phantasie, der diesem Umstande auch seine Beförderung verdankte. Seine Unterredung mit »Klaps-John Flack« war sehr kurz.
»Es handelt sich um deine Bücher, Jack,« sagte er, »es wäre bedauerlich, wenn sie in falsche Hände fallen würden. Ravini sagt, du hast fast hundert Bücher irgendwo versteckt.«
»Ravini?« Der alte John Flack fletschte die Zähne. »Hören Sie mal, Simpson! Sie glauben doch nicht etwa, daß Sie mich mein ganzes Leben lang an diesem verwünschten Platze festhalten können? Ja? ... Dann können Sie sich aber verdammt irren. In irgendeiner Nacht verschwinde ich stillschweigend – Sie können das dem Direktor erzählen, wenn Sie wollen – und dann werde ich mal mit Ravini unter vier Augen sprechen.«
Seine Stimme wurde laut und kreischend, und das alte wahnwitzige Flackern, das Simpson schon früher an ihm gekannt hatte, erschien wieder in seinen Augen. »Haben Sie jemals wache Träume, Simpson?... Ich habe drei. Ich habe eine neue Methode ausgefunden, um mit einer Million verschwinden zu können. Das ist Nummer eins, ist aber nicht so wichtig. Kummer zwei hat mit Reeder zu tun. Meinetwegen können Sie I. G. alles wiedererzählen. Ich träume davon, daß ich ihn mal treffe – allein – in einer netten, dunklen, nebligen Nacht, wenn die Schutzleute nicht sagen können, ans welcher Richtung die Schreie kommen. Und mein dritter Traum ist Ravini. George Ravini hat eine Chance, und die ist, er stirbt, bevor ich hier rauskomme.«
»Du bist verrückt,« entfuhr es Simpson.
»Darum bin ich ja hier,« erwiderte John Flack wahrheitsgemäß.
Diese Unterhaltung und die mit dem Direktor waren die beiden längsten, die er im Laufe der sechs Jahre in Broadmoor gehabt hatte. Wenn er nicht schrieb, schlenderte er durch die Gefängnisanlagen, das Kinn auf der Brust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Manchmal kam er an einen bestimmten Platz in der Nähe der hohen Umfassungsmauer, und man munkelte, – obwohl das sehr unwahrscheinlich erscheint – daß er Briefe hinüberwarf. Wahrscheinlicher ist es, daß er einen Boten gefunden hatte, der seine zahlreichen, chiffrierten Briefe nach der Außenwelt beförderte und kurze Antworten zurückbrachte. Er war sehr gut Freund mit dem Aufsichtsbeamten seiner Abteilung, und eines Tages wurde dieser mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Das Tor der Abteilung stand weit offen, und John Flack war in die Welt zurückgekehrt, um seine »wachen Träume« zu verwirklichen.
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