LUNATA
Töchter der Nacht
Töchter der Nacht
Kriminalroman
© 1925 by Edgar Wallace
Originaltitel The Daughters of the Night
Aus dem Englischen von Ravi Ravendro
© Lunata Berlin 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Ungeduldig wartend saß Jim Bartholomew in Stiefeln und Sporen auf der Ecke des großen, schweren Eichentisches und beobachtete die Uhr auf dem Kamin. Er sah noch sehr jung aus, war aber bereits Direktor der wichtigsten Zweigniederlassung der South Devon-Bank. Sein Vater war vor seinem Tod Generaldirektor des ganzen Unternehmens gewesen und hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, daß sein Sohn so frühzeitig diese gute Position erhielt.
Es gab ja wohl Leute, die in Jim nur den gutgekleideten jungen Mann sahen, der elegante Pferde liebte und ausschließlich Interesse für Fuchsjagden und Vergnügungen hatte. Sie hätten aber ihr Urteil über ihn geändert, wenn sie einmal geschäftlich mit ihm zusammengetroffen wären.
Er sah auf seine Taschenuhr und seufzte.
Es lag wirklich kein Grund vor, pünktlich bis zum Schluß der Bürostunden zu bleiben, denn gestern war in Moorford Markttag gewesen, und heute morgen hatte er den baren Kassenbestand mit dem Zug nach Exeter gesandt.
Aber Jim genierte sich vor seinem Assistenten. Dieser Mann amüsierte und ärgerte ihn zugleich. Einerseits bewunderte er die gewissenhafte Pflichterfüllung Stephen Sandersons, andererseits regte es ihn auf, wenn der Angestellte die Bankvorschriften zu wörtlich und buchstäblich auslegte. Er sah noch einmal auf die Uhr, nahm die Reitpeitsche vom Tisch und trat in das Büro seines Assistenten.
Stephen Sanderson schaute auf, als der Direktor eintrat, und warf dann einen Blick auf die laut tickende Uhr über der Tür.
»In zwei Minuten schließen wir, Mr. Bartholomew«, sagte er kurz und leicht vorwurfsvoll.
Er war zweiundvierzig Jahre alt und arbeitete sehr fleißig und erfolgreich. Die Ernennung Jim Bartholomews zum Direktor hatte eine ehrgeizige Hoffnung seines Lebens zerstört, und er hatte aus diesem Grunde keine besondere Veranlassung, seinen Vorgesetzten zu lieben. Bartholomew war ein Mann, dem mehr das Leben in der freien Natur zusagte. Er hatte den Weltkrieg mitgemacht und sich dabei ausgezeichnet; er liebte Sport, Tanz und Gesellschaft. Sanderson dagegen war unermüdlich tätig. Ihm kam es darauf an, gute Referenzen zu sammeln, und am wohlsten fühlte er sich, wenn er zu Hause in seiner Bibliothek studieren und sich weiterbilden konnte. Außerdem hatte er auch noch eine Schwäche, die Jim Bartholomew zum Entsetzen seines Assistenten entdeckt hatte.
»Die Stahlkammern sind schon geschlossen, Mr. Sanderson«, entgegnete Jim lächelnd. »Ich glaube kaum, daß zwei Minuten noch einen großen Unterschied machen.«
Mr. Sanderson zog die Nasenwinkel hoch, ohne die Augen vom Schreibtisch zu erheben.
»Nun, was machen denn Ihre kriminalistischen Studien?« fragte Jim gutmütig.
Der Mann wurde rot und legte ärgerlich die Feder nieder.
»Mr. Bartholomew, dagegen muß ich aber protestieren«, erwiderte er hitzig. »Sie spotten über meine Bemühungen, die eines Tages der Bank noch großen Vorteil bringen können.«
»Sicher, sicher«, erklärte Jim beruhigend und schämte sich, daß er den anderen gekränkt hatte.
»Ich habe kürzlich von einem guten Bekannten, mit dem ich korrespondiere, die Unterlagen eines berühmten Falles erhalten«, fuhr Sanderson fort und nahm einen großen Briefumschlag auf. »Wenn Sie den Inhalt lesen«, sagte er mit Nachdruck, »werden Sie doch erstaunt sein und Ihre skeptischen Bemerkungen unterlassen.«
Wenn Mr. Sanderson erregt war, hörte man deutlich seinen nördlichen Akzent. Das war immer ein gefährliches Zeichen, wie Jim Bartholomew wußte.
»Aber mein lieber Freund, es ist tatsächlich ein ausgezeichnetes Studium, und ich gratuliere Ihnen nur dazu. Als ich während des Krieges im Marinenachrichtendienst tätig war, dachte ich selbst daran, Detektiv zu werden.«
Wieder sah Mr. Sanderson auf die Uhr.
»Sie werden jetzt gehen, es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte er mit besonderer Betonung, und Jim verließ lachend die Bank.
Auf der Straße hielt ein Reitknecht sein Pferd neben dem Gehsteig. Jim stieg in den Sattel, ritt schnell durch die Stadt und den langen Abhang hinauf, der bis zur Ecke des Moores führte. Als er die kleine Villenkolonie hinter sich hatte, kam er schließlich zu einer Art Talsenkung, die der Teufelskessel genannt wurde.
Auf der anderen Seite der Schlucht wartete ebenfalls jemand zu Pferde. Deutlich hob sich die Gestalt im Sattel von dem westlichen Himmel ab. Er nahm den kürzesten Weg und ritt den steilen Abhang hinab durch das tiefe Tal, in dem Felsstücke verstreut lagen.
Die junge Dame, die ihn drüben erwartete, hatte im Herrensattel gesessen, nahm aber nun ein Bein aus dem Steigbügel, schwang es über den Pferdehals und machte es sich bequemer. Die untergehende Sonne spiegelte sich in ihren blanken Reitstiefeln.
Sie hatte die Hände über einem Knie gefaltet und sah lächelnd und belustigt zu Jim hinüber, der sich mühsam mit dem Pferd die Höhe hinaufarbeitete.
Margot Cameron hatte ein Gesicht, wie es besonders die französischen Künstler lieben und häufig in ihren Schwarz-weiß-Skizzen festhalten. Ihre roten Lippen zogen die Aufmerksamkeit auf sich, und ihnen gegenüber fiel die leichte Röte der Wangen nicht ins Gewicht.
Wenn man sie aus der Nähe betrachtete, bemerkte man, daß dieses feurige Rot natürlich war und nicht durch künstliche Mittel vorgetäuscht wurde. Auch ihre vollen goldbraunen Locken waren ein Naturgeschenk.
Jim ritt auf sie zu und schwenkte schon von weitem den Hut zum Gruß.
»Wissen Sie auch«, sagte die junge Dame, indem sie mit dem rechten Fuß wieder in den Steigbügel trat, »eben kam mir so recht zum Bewusstsein, daß Sie für Ihren Lebensunterhalt arbeiten.«
»Ich halte die Bürostunden ein. Das ist etwas anderes als das, was Sie sagen. Wenn Sie diese ganze lange Zeit in England waren und noch nicht entdeckt haben, daß die englischen Geschäftsleute nicht vor zehn Uhr morgens zu arbeiten anfangen, nachmittags um drei bereits zum Tee gehen und um vier Uhr das Geschäft schließen, dann haben Sie allerdings noch nicht viel gelernt.«
Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. Im allgemeinen war sie ziemlich ernst, aber die Gegenwart Jim Bartholomews stimmte sie fröhlich und heiter.
Sie ritten einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis Jim sich an sie wandte.
»Nach allem glaube ich, daß ich Sie nun nur noch ein einziges Mal sehen werde vor Ihrer Abfahrt nach den Vereinigten Staaten?«
Sie nickte.
»Und wie lange werden Sie fortbleiben?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Margot kurz. »Meine Pläne für die Zukunft sind noch ziemlich ungewiß. Im Augenblick hängt alles davon ab, was Frank und Cecile entscheiden. Sie sprachen schon davon, daß sie sich in England ankaufen und ein paar Jahre hierbleiben würden. Frank ist gerade nicht sehr davon erbaut, daß ich allein lebe, andererseits –«, sie hörte plötzlich auf und vollendete den Satz nicht.
»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte Jim interessiert.
»Andererseits wäre es ja nicht ausgeschlossen, daß ich auch selbst in England bliebe.«
»Ach ja«, erwiderte Jim leise.
»Würden Sie es gerne sehen?« fragte sie plötzlich.
»Nein«, gab er ruhig zu. »Ich glaube nicht, daß ich einen solchen Schritt ihrerseits gern sehen würde. Aber Ihre Anwesenheit hier ist für mich sehr angenehm. Wenn Sie nicht ein so großes Vermögen besäßen, dann wäre es vielleicht bedeutend leichter, endgültig über Ihre Zukunft zu entscheiden.«
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