Durch die Dominanz der väterlichen Pastorenfamilie mit dem lutherischen Antisemitismus und der evangelischen Erziehung seiner eigenen Kinder stand dieser Geist der Familie Wehsarg in der Villa Elsava im Vordergrund. Im Dritten Reich wurde die gegensätzliche liberal-demokratisch katholische Einstellung der Familie Wagner verschwiegen. Sie passte nicht in den Zeitgeist und wurde den nachfolgenden Generationen so lange nicht vermittelt, bis die Familiengeschichte des Dr. Franz Wagner ans Licht geholt wurde.
Annemarie bemerkte als erste, dass Opapa auffällig oft rastlos mit hängendem Kopf durch die hohen Räume der Villa ging, als ob er etwas suchen würde. Auf ihre Frage schüttelte er nur stumm den Kopf und schaute zu Boden. Ein andermal redete er zusammenhanglos von der Eisenbahn und als Mie auf ihn einging, sich bei ihm einhakte und ihn auf dem Weg „zur Bahn“ begleitete, indem sie die „Reise nach Jerusalem“ mit ihm spielte, mehrmals mit ihm im Salon um den großen Tisch ging, um sich dann - wie im Abteil des Zuges - auf zwei nebeneinander stehende Stühle zu setzen, drückte er mit einem glücklichen Lächeln wortlos die Hand seiner Enkeltochter. Sie wusste, jetzt fuhr er in seiner geliebten Spessarteisenbahn.
Bevor Lilo zurückging in die Küche schaute sie durch das hohe Fenster zum Park und konnte gerade noch sehen, wie Wolfgang eine Ziege an der Leine führte, die jüngere trottete hinterher und Udo versuchte sie mit lautem „Maxi“-Rufen und einem Stock in die richtige Richtung zu treiben. Sie ließen sich nicht die Zeit, ihre Schuhe anzuziehen und liefen barfuß auf die Wiese zu, die hinter dem Park lag. Ein Anblick, an dem sich Lilo gar nicht sattsehen konnte. Wie gut, dass die beiden heute ihre robusten kurzen Lederhosen angezogen haben! Inge, die gerade eben noch mit der kleinen Katze gespielt hatte, bemühte sich, sie einzuholen.
Rechtzeitig zum Abendessen kamen die drei mit einem Mordshunger zurück. Schweigend, wie von Papi gefordert, saßen sie am Tisch. Ihre Ungeduld konnten sie allerdings kaum zügeln. Udo baumelte so heftig mit den Beinen unter dem Tisch, dass er an die Stuhlbeine schlug und ein lautes rhythmisches Stakkato die Stille unterbrach. Inge half ihrer Mutter und Tante Lilo in der Küche. Wolfgang rutschte auf seinem Platz hin und her, bis Papi einen strafenden Blick über den Tisch schickte und mit energischem Blick erwartungsvoll in Richtung Küche schaute. Wo blieb Lilo nur mit dem Abendessen?
Opapa, der sich nach seinem Mittagsschlaf regelmäßig in den Malepartus zurückzog, um ungestört seine Pfeife mit dem eigenen Tabak zu genießen, den er selbst im Garten angepflanzt hatte und der zum Trocknen auf einer langen Leine im Speicher hing, war noch nicht zurückgekommen, obwohl es schon dunkel wurde. Seine Tochter fand ihn gedankenversunken im Lehnstuhl am Fenster. Sanft berührte sie ihn an der Schulter: „Papa, hast du noch keinen Hunger? Komm, lass uns ins Haus gehen!“ Als er aufschaute, schien sein Blick ins Leere zu wandern. „Ich warte noch auf mein Knüddelchen“, flüsterte er kaum hörbar. Else erschrak. Wurde ihr Vater jetzt noch verwirrter? Dann fasste sie sich, half ihm auf, hakte sich bei ihm unter und bemühte sich, heiter zu wirken: „Du weißt doch, Papa, wo sie ist, wir gehen zu ihr!“ Seit dem Tod ihrer Mutter vor nun bereits sechsundzwanzig Jahren ging ihr Vater nie schlafen ohne zuvor an die Vitrine zu treten, auf der die Urne mit der Asche seiner verstorbenen Frau auf einem zarten Spitzendeckchen stand. Heute stützte er sich schwer mit einer Hand auf seinen Stock und der anderen auf dem tischhohen Sockel ab. Nachdenklich beobachtete Else, wie ihr Vater sehr lange seinen Blick auf dem Selbstportrait seiner Frau ruhen ließ.
Bevor sie am Abend zu Bett ging, öffnete sie leise die Türe zum Zimmer ihres Vaters. Sie war besorgt, weil er keinen Appetit hatte und das Abendessen stehenließ. Lisbeth, das Hausmädchen hatte eigens einen Grießbrei gekocht, den er so gerne aß, aber an diesem Abend schien ihn auch der feine Zimtduft, der sich aus der Küche verbreitete, nicht zu locken. Im Lichtschein des Flures sah Else, dass ihr Vater mit offenen Augen und wie zum Gebet verschränkten Händen im Bett lag. Vorsichtig trat sie zu ihm und strich ihm über die Schulter: „Geht es dir besser, Papa?“ Sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt hörte. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Else setzte sich auf die Bettkante und wartete. Richard hatte die Augen geschlossen und nach ein paar Atemzügen, die ihm sichtlich Mühe machten, hörte sie ihn flüstern: „Ich komm‘ bald zu dir, mein Liebes!“
Noch vor ein paar Wochen hatte Opapa mitgeholfen beim Aufstapeln des Holzes für den Heizvorrat im Winter. Trotz seiner Beinamputation und der anderen - noch lange nicht verheilten - Kriegsverletzungen bemühte sich Willi, einen ganzen Ster Holz mit dem Beil in entsprechende Scheite zu hauen. Hochdekoriert war er vom Krieg zurückgekommen. Doch nun war er nur einer von vielen Kriegsinvaliden, ein junger Mann, kurz vor seinem einunddreißigsten Geburtstag, der die letzten Kräfte mobilisierte, um für seine Familie da zu sein. Doch der so sehnlich Erwartete, der endlich Heimgekehrte, schien oft nur körperlich anwesend zu sein. Lilo konnte es an seinen Augen ablesen, dass er das Erleben im Krieg noch nicht hinter sich gelassen hatte. Sie spürte seine stumme Ablehnung, wagte nicht weiter zu fragen, wenn er nur von der Verbundenheit mit seiner Kompanie und seinem Burschen berichtete. Seine aufkommenden Gedanken, erst jetzt, wo der Krieg beendet war, die Szenen, die ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufschrecken ließen, quälten ihn erbarmungslos. Wie es ihm möglich war, auf Menschen zu schießen, obwohl er wusste, das vorsätzliche Töten ist Mord und durch den Krieg war es mit einem Mal in Heldentum verwandelt, erschütterte ihn bis ins Mark. Schweißgebadet lag er Nacht für Nacht auf seinem Kissen. Seine Schweigsamkeit, seine Ungeduld, sein Jähzorn waren für Lilo und die beiden Söhne erschreckend. Willi war als Fremder zurückgekommen.
Nach dem Rausch des Wiedersehens bestimmten rasch die Sorgen um die Nahrung den Alltag. Lilo war täglich mit Wolfgang bei Bauern auf dem Kartoffelacker, um den Jahresvorrat anzulegen. Auch nach der Ernte waren die beiden nochmal unterwegs zum „Stoppeln“. Willi sortierte jeweils aus, was sie mitbrachten und sorgte für die angemessene Lagerung, damit keine Fäule entstehen konnte. Es musste Heu gemacht werden für die Ziegen, damit sie für die Kinder genügend Milch (nach Opapas Anweisung, der sie für nahrhafter und bekömmlicher hielt als Kuhmilch) geben konnten. Die neuen Hühner entpuppten sich als Hähne und so war die Sorge groß, überhaupt genügend Eier zu bekommen. Willi bat seine Schwester, zwei Hähne gegen Hühner einzutauschen. Von ihr hatte er auch eine junge Ziege und drei Hasen bekommen. Von denen allerdings schon bald zwei geschlachtet werden mussten, noch bevor sie Fleisch ansetzen konnten, weil sie durch eine Unverträglichkeit des Futters plötzlich gefährlich aufgebläht waren.
Als am Morgen alle zum Frühstück am Tisch saßen, aber Opapa fehlte, meinte Else halblaut mehr zu sich selbst: „Heute schläft Papa aber sehr lange, hoffentlich geht es ihm besser. Ich werde mal nach ihm schauen.“ Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und lugte leise durch den Türspalt in die Schlafstube ihres Vaters. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Das Morgenlicht legte sanfte Schatten auf das Bett, in dem er ganz still, wie in einem tiefen Schlaf, zu liegen schien. Mit vorsichtigem Schritt - die Dielen knarrten leise unter ihren Füßen -, um ihn nicht zu wecken, ging sie näher. Ihr Vater lag noch so - mit verschränkten Fingern auf der Bettdecke -, wie sie ihn am Abend zuvor verlassen hatte, aber sein Gesicht war verändert. Als ob er gerade in einen schönen Traum versunken wäre, waren seine, in letzter Zeit so starr gewordenen, Gesichtszüge nun von einem sanften Lächeln erlöst. Abrupt blieb Else vor dem Bett stehen, augenblicklich wusste sie, ihr Vater war sanft eingeschlafen, er war von dieser Welt gegangen. Erschrocken wagte sie nicht, sich zu rühren. Das Mysterium des Todes ergriff sie. Nach einiger Zeit strich sie ihm schweigend über die Hände und erschrak über die Kälte, die bereits von ihnen ausging. Plötzlich standen Lilo und Annemarie neben ihr, ihre Ahnung hatte sich bewahrheitet. Obwohl sie alle auf seinen Tod vorbereitet waren, kam er nun doch ganz plötzlich und brachte die ganze Familie aus dem Gleichgewicht. Jetzt erst wurde ihnen bewusst, wie oft Opapa sie in den letzten Jahren unterstützen konnte durch seine reichen Erfahrungen, sein großes Wissen und seine guten Ratschläge, die ihm nie ausgegangen waren.
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