Bis zum letzten Augenblick war der Glaube an den verheißenen „Endsieg“ wie ein Dogma, niemand in der Familie hatte gewagt, es anzuzweifeln. Der Blick auf die ganze Dimension dieses Krieges, die millionenfachen Verbrechen, die erst nach und nach bekannt wurden, u. a. im Gesprächsaustausch mit dem befreundeten Schlossers Leo (mein Vater), der den verbotenen englischen Sender BBC heimlich abhörte, erschütterten schlagartig sein Bild vom Nationalsozialismus. Die quälenden Gedanken, die ihn keinen Schlaf mehr finden ließen in der Nacht, verfolgten ihn. Was wird nun werden aus meinem geliebten Vaterland? Wer wird Rechenschaft ablegen für diese Verbrechen? Wie werden unsere Kinder und Enkelkinder mit diesem Trauma ihr Leben gestalten können, dem Gefühl der Scham, der Hypothek, die wie eine „Erbsünde“ auf ihnen lasten wird? Er fand nicht mehr die Kraft über die Gedanken, die ihn bewegten und bedrückten, mit seinen Kindern zu reden, nicht einmal mit seinen Freunden, die er immer seltener sah, weil er sich mehr und mehr zurückgezogen hatte. Richard war ein Greis, vom eigenen Schatten verfolgt. Wie in ihm breitete sich in einer ganzen Generation ein Schweigen über den pervertierten Nationalismus aus, das das Grauen unter einem dicken Nebelschleier verbarg, unwissend, dass dieses Schweigen - wie eine Verewigung des Verbrechens - die Türe vor der Wahrheit verschloss und sie aufreißen kann zu einer Neuauflage. Jahrzehntelang war es, als wäre für die meisten der Faden des Gedächtnisses gerissen und das Grauen hinterließ eine ganze traumatisierte Generation.
Martin Luther, der große Reformator des Christentums galt als zentrale Persönlichkeit seit Richards Kindheit in der Familie. Sein markantes Portrait hing an der Wand des Arbeitszimmers seines Vaters, wie seines Großvaters, der ebenso Pastor war, und wenn der Vater ihn zitierte, war es für den kleinen Richard, als kämen die Worte aus Luthers Mund selbst. Er sah die Fehlentwicklungen in der Kirche und wollte sie beseitigen, diese in ihrem ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Entgegen seiner Absicht war es zu einer Kirchenspaltung gekommen. Luthers Bibelübersetzung gilt bis heute als große Leistung. Die spätere Neuorientierung der politischen Verhältnisse Deutschlands und Europas wären ohne die Reformation nicht zu erklären.
Luthers antisemitische Haltung basiert auf seiner Theologie und nicht auf rassistischen Einstellungen. Seine ablehnende Haltung dem jüdischen Volk gegenüber stand in direktem Zusammenhang mit der Legende, die seit zweitausend Jahren von höchsten moralischen Autoritäten gepredigt wurde: Die Juden trügen die Schuld, dass Jesus gekreuzigt worden sei. Der Vorwurf, einen „Gottesmord“ begangen zu haben, sollte als Rechtfertigung dienen für die Hetzjagd und schließlich die Ermordung der Juden. Dass die Römer die Verantwortung für den Tod des Mannes aus Nazareth tragen, hätten die Historiker und Theologen allerdings von Anfang an wissen können, wenn sie die Passionsgeschichten kritischer auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft hätten. So räumte auch Luther nicht dieses Missverständnis aus.
Die Verdrehungen der geschichtlichen Abläufe bis zur Hinrichtung Jesu am Kreuz hatten bereits durch die Aufzeichnungen der vier Evangelisten begonnen, die nicht ahnen konnten, welche verheerenden Auswirkungen dies haben sollte. Wer sich die Botschaften Jesu, die er uns durch sein Beispiel hinterlassen hat, zu Herzen nimmt, wird erkennen, dass er die Nächstenliebe, die alle Lebewesen, die ganze Natur einschließt, furchtlos über alle irdischen Gesetze an die erste Stelle unseres Menschseins gestellt hat.
Bereits in der Kindheit hatte Richard von den „Lügen der Juden“ und antijüdische Äußerungen gehört, über die Luther eine Schrift herausgegeben hatte. Von seinem Vater wusste er, dass Luther ursprünglich sich mit den Juden gegen die Katholiken verbünden wollte. Seine Bemühungen, die Juden zu bekehren, scheiterten. Er wollte ihnen die unsinnige Narrheit des jüdischen Glaubens beweisen und ließ ihnen nur die Wahl zwischen Taufe und Vertreibung. Zunächst beschrieb Luther den Hochmut der Juden. Sie hielten sich aufgrund ihrer Abstammung für Gottes auserwähltes Volk, obwohl sie doch, wie alle Menschen, als Sünder unter Gottes Zorn stünden . Die Juden seien blutdürstig, rachsüchtig, das geldgierigste Volk, leibhaftige Teufel, verstockt. Ihre verdammten Rabbiner verführten die christliche Jugend, sich vom wahren Glauben abzuwenden. Luther zitierte das Neue Testament Mt 12,34: Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Gutes tun sie aus Eigennutz, nicht aus Liebe […]. - Sie lassen uns in unserem eigenen Land gefangen und lassen uns arbeiten […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte. Er appellierte an den Sozialneid der Bevölkerung, um die „Schutzgeldzahlungen“ der Juden zu beenden. Dazu forderte er, ihre Synagogen niederzubrennen, ihre Häuser zu zerstören etc. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass es den Christen verboten sei, die Juden zu verfluchen und persönlich anzugreifen obwohl er sie gerne eigenhändig erwürgen würde . Falls sich seine sieben Schritte nicht durchführen ließen, so bleibe nur, die Juden aus den evangelischen Ländern wie tolle Hunde zu verjagen. Damit sprach Luther den Juden die Menschenwürde ab, die er ihnen noch 1523 zugebilligt hatte. Er wies die evangelischen Pfarrer und Prediger an, seine Ratschläge unabhängig vom Verhalten der Obrigkeit zu befolgen, ihre Gemeinden vor jedem Kontakt mit Juden und jeder Nachbarschaftshilfe für sie zu warnen und verlangte die Weitergabe und ständige Aktualisierung seiner antijüdischen Schriften.
1931 gab Karl-Otto v. d. Bach die Schrift „Luther als Judenfeind“ heraus, in der er in judenfeindlichen Lutherzitaten eine völkische Bedeutung der Reformation gegen die jüdische Plage sah. Diese Ansichten wurden Gemeingut in völkischen und rassistischen Teilen des Protestantismus.
Adolf Hitler stilisierte Luther beim NSDAP-Parteitag 1923 für den geplanten Hitlerputsch zum Vorbild des Führerprinzips: Er habe seinen Kampf gegen „eine Welt von Feinden“ damals ohne jede Stütze gewagt. Dieses Wagnis zeichne einen echten heldischen Staatsmann und Diktator aus. Das NSDAP-Blatt „Der Stürmer“ vereinnahmte ab 1923 oft ausgewählte isolierte Zitate aus dem Neuen Testament und von christlichen Autoren, darunter Luther.
Aber es gab auch andere Stimmen: Pastor Hermann Steinlein (Innere Mission Nürnberg) erklärte, Luther sei keine unfehlbare Autorität. Eduard Lamparter erklärte 1928 für den Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Luther sei parteipolitisch zum Kronzeugen des modernen Antisemitismus vereinnahmt worden und sei 1523, auf dem Höhepunkt seines reformatorischen Wirkens, für die Unterdrückten, Verachteten und Verfemten in so warmen Worten eingetreten und hätte der Christenheit die Nächstenliebe als die vornehmste Pflicht auch gegenüber den Juden eindringlich ans Herz gelegt. Prominente evangelische Theologen empfahlen allen Pastoren, die Erklärung als maßgebende Position der evangelischen Kirche zu verlesen: Antisemitismus sei eine Sünde gegen Christus und mit dem christlichen Glauben unvereinbar.
Der Deutsche Evangelische Kirchenbund begrüßte dennoch die Machtergreifung des NS-Regimes am 30. Januar 1933 mit großer Begeisterung. Vertreter, wie Otto Dibelius - als glühender Monarchist, Antidemokrat und Antisemit - lobten beim „Tag von Potsdam“, am 21. März 1933, die Beseitigung der Weimarer Verfassung als „neue Reformation“ und stilisierte Hitler zum gottgesandten Retter des deutschen Volkes. Dieser Tag ging in die Geschichte ein, da in der Garnisonskirche der erste Reichstag nach der Machtübernahme eröffnet wurde und der neue Reichskanzler Adolf Hitler sich vor Reichspräsident Hindenburg verneigte.
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