In der NS-Zeit wurden Luthers Judentexte neu herausgegeben. 1937 und 38 bekräftigten zwei Artikel im „Stürmer“, Luther müsse als unerbittlicher und rücksichtsloser Antisemit gelten und die evangelischen Pastoren müssten dies viel stärker predigen. Im November 1937 beim „Rezitationsabend“ im Residenztheater in München zur Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude“ wurden zuerst Auszüge aus Luthers Schriften verlesen. Gegen die November-Pogrome protestierte keine Kirchenleitung. Landesbischof Walther Schultz forderte alle Pastoren Mecklenburgs in einem „Mahnwort zur Judenfrage“ am 16. November 1938 auf, Luthers „Vermächtnis“ zu erfüllen, damit die „deutsche Seele“ nun keinen Schaden erleide und die Deutschen […] alles daran setzten, eine Wiederholung der Zersetzung des deutschen Reiches durch den jüdischen Ungeist von innen her für alle Zeiten unmöglich zu machen. Adolf Hitler, nicht „der Jude“ habe am deutschen Volk Barmherzigkeit getan , so dass ihm und seinem – dem deutschen Volk aufgetragenen - Kampf gegen die Juden, die Nächstenliebe, Treue und Gefolgschaft der Christen zu gelten habe. Bischof Martin Sasse stellte in seinem weit verbreiteten Pamphlet Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! am 23. November 1938 ausgewählte Lutherzitate so zusammen, dass die nationalsozialistische Judenverfolgung als direkte Erfüllung von Luthers Forderungen erschien. Die von elf evangelischen Landeskirchen unterzeichneten „Leitlinien“ vom März 1939 behaupteten, der artgemäße Nationalsozialismus setze Luthers Reformen politisch fort. Der Theologe Theodor Pauls forderte, die Kirche müsse mit dem Evangelium für das deutsche Lebensgesetz gegen die jüdische Macht des Verderbens eintreten , der Staat müsse dieses Lebensgesetz durchsetzen und Gottes Zorn gegen die Juden vollstrecken und untermauerte dies mit Luther-Zitaten. Am 17. Dezember 1941 erklärten sieben evangelische Landeskirchen, der Judenstern entspreche Luthers Forderung, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen.
Die evangelischen Kirchenführer ließen sich in vorauseilendem Gehorsam bereitwillig zu Helfershelfern der Nazis instrumentalisieren, tauschten das Neue Testament mit der Bergpredigt gegen „Mein Kampf“. Der frühere US-Präsident Wilson, der sich mehrmals während des Ersten Weltkrieges für Friedensverhandlungen eingesetzt hatte, wäre als herausragendes Vorbild für eine christlich orientierte Politik gewesen.
Luthers Antisemitismus war in klerikalen Kreisen kein Einzelfall. Der ehemalige Zisterzienser-Mönch und Landsmann von Adolf Hitler, Adolf J. Lanz aus Wien (Hochstapler Jörg Lanz von Liebenfels), gründete 1900 einen Zusammenschluss rassistischer Deutsch-Österreicher, den religiösen „Neutempler-Orden“, der die arische Rasse - als die von Gott auserwählten Herrenmenschen - glorifizierte. Als glühender Antisemit fühlte er sich den „Alldeutschen“ verbunden. Lanz legte den Sündenfall des Alten Testamentes so aus, dass die ursprünglich göttlichen Arier sich mit Tieren vermischt hätten und daraus minderwertige Rassen hervorgegangen seien, die zur Reinhaltung des Blutes zu eliminieren wären (Eugenik). Sein menschenverachtendes Frauenbild drückte sich darin aus, dass arische Frauen nur als „Zuchtmütter“ wertvoll seien. Inwieweit sich Hitler von Lanz inspirieren ließ, ist unter Historikern umstritten. Bei SS-Chef Heinrich Himmler dürften neben dem Rassenwahn auch die okkulten Thesen von Lanz auf besonders fruchtbaren Boden gefallen sein (er glaubte die Reinkarnation König Heinrichs zu sein, suchte nach dem Heiligen Gral, gründete die „SS-Herrenmenschen-Zuchtstation Lebensborn“, baute die Wewelsburg zu einer rituellen SS-Hochburg aus) und konnte in diesem Wahn skrupellos den millionenfachen Massenmord organisieren. Wie schizophren, barbarisch und menschenverachtend Himmler war, zeigt eine Rede vor seinen Mordschergen der Sonderkommandos am 4. Oktober 43 in Posen: „Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘ sagt ein jeder Parteigenosse. Ganz klar steht in unserem Programm Ausschaltung der Juden; Ausrottung machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist klar, die anderen sind Schweine, aber dieser ist ein prima Jude. Von allen die so reden, hat keiner zugesehen und durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100, 500 oder 1000 Leichen daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche, ‚anständig‘ geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes Ruhmesblatt unserer Geschichte“. Dass Himmler mit diesen Zahlen untertrieben hat, zeigt stellvertretend das Massaker in der Schlucht von Babyn Yar, Nähe Kiew, bei dem - mit „logistischer“ Unterstützung der Wehrmacht - innerhalb 36 Stunden 33.000 Juden (Männer, Frauen und Kinder) von seinen Schergen erschossen wurden.
Einzelne Vertreter verschiedener Kirchen prangerten in ihren Predigten die Judenverfolgung oder Konzentrationslager an und erhielten daraufhin Rede- und Schreibverbot oder wurden selbst in Konzentrationslagern inhaftiert. Einige Theologen, wie Niemöller und Bonhoeffer, leisteten aktiven und passiven Widerstand. Die Württembergische Pfarrhauskette, organisiert durch Theodor Dipper, war eine Untergrundorganisation evangelischer Pfarrer zur Rettung von Juden. Die Mitglieder der Weißen Rose (Scholl, Probst, Graf, Schmorell) druckten und verteilten im Juni 1942 bis zum Februar 43 Flugblätter. Sie handelten nach eigener Aussage aus christlicher Überzeugung und wurden ebenso wie Bonhoeffer hingerichtet. Doch allen Gruppen des Widerstandes war bewusst, dass sie eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung darstellten. Sie besaßen keine realistische Chance, das System grundlegend zu ändern. Eine Unterstützung durch die Alliierten erhielt der deutsche Widerstand nicht, vielmehr führte die Forderung einer bedingungslosen Kapitulation zu einer Solidarisierung mit der Führung und gab dem Widerstand keine Möglichkeit, durch eine Machtübernahme die Friedensbedingungen zu verbessern.
Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Synode von Weißensee 1950 leitete die Evangelische Kirche in Deutschland einen Bruch mit dem Antijudaismus ein, schwieg aber lange zu Luthers Judenaussagen. 1969 nahm der Lutherische Weltbund erstmals offiziell Stellung zu Luthers Judentexten: Er habe Juden darin auf grausame und gefährliche Weise angegriffen und damit seiner Kreuzestheologie widersprochen. Zum 500-jährigen Reformationsjubiläum sollte sich die Evangelische Kirche der Klärung von Luthers antijüdischer Grundhaltung stellen. „Das weitreichende Versagen der Evangelischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk erfüllt uns mit Trauer und Scham.“ Der Wissenschaftliche Beirat der EKD erklärte in seiner Orientierungsschrift: Völkische Antisemiten hätten Luthers antijüdische Schriften mit ihrem rassenbiologischen Programm verbunden und für die nationalsozialistische Judenpolitik benutzt. Daran hätten sich „je länger, je mehr“ auch evangelische Theologen beteiligt. Heute gelten Luthers Judenschriften als schlechterdings unvereinbar mit seiner eigenen Theologie und dem Neuen Testament.
Dass sich nicht nur in Deutschland über mehrere Generationen ein tiefsitzender Groll gegen jüdische Bürger aufgebaut hatte, sah Richard bestätigt durch seine eigenen unfreiwilligen Beobachtungen in den letzten Jahren während seiner Hausbesuche im Spessart. Er hatte nicht nur einmal gesehen, wie ein jüdischer Kaufmann in ein Haus ging, das mehr einer Hütte glich, während kurz darauf der Besitzer durch die Hintertüre verschwand. Richard wusste, dies war nicht nur für einen einzigen Schuldner die letzte Möglichkeit, durch seine Ehefrau den angelaufenen Zinsen zu entkommen. Sich Geld zu leihen gegen einen Schuldschein war manchmal in der Not die Rettung vor dem Verhungern. Und wenn einige Juden Zinsen verlangten, die die Schuldner nicht begleichen konnten, wuchs der Unmut. Es hieß, die Zinsen seien für die Juden wie für die Bauern die Egge und der Pflug. Betrügereien durch Deutsche - wie legalisierter Diebstahl jüdischen Eigentums in der NS-Zeit - wurden dagegen verdrängt, da dies nicht in das Bild des angeblich „ehrlichen und aufrechten Deutschen“ passte.
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