Seit vielen Jahren hatte sich ein Neid-Antisemitismus in einigen Teilen der Bevölkerung entwickelt, der sich ausgebreitet hatte. Die von Hitler angekündigte „Juden-Vernichtung“ nahm kaum jemand wörtlich, wie auch die Reichstagsrede vom 30. Januar 39: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ - und im Jahre 1941/42 über die Endlösung: „Wenn wir diese Pest ausrotten, so vollbringen wir eine Tat für die Menschheit […] Wir werden gesund, wenn wir den Juden eliminieren.“
Kaum jemand war in der Lage, sich das Grauen des beginnenden Holocaust vorzustellen. Propagandafilme der Nazis zeigten demonstrativ Filmaufnahmen vom Lager Theresienstadt, in denen der Tagesablauf der jüdischen Familien wie in einem Ferienlager, sogar mit eigenem Gemüsegarten und Sportprogramm, zu sehen war. Die Bilder sollten die Bevölkerung, die mehrheitlich das Aussiedeln der Juden aus Deutschland begrüßten, täuschen und von der grausamen Wahrheit ablenken. Im krassen Gegensatz dazu wurden filmisch auf perfide Weise die grauenhaften Verhältnisse im Warschauer Ghetto für ein verfälschtes Bild „des Juden“ ausgeschlachtet, mit dem Tenor, er sei ein parasitärer, verlauster, schmutziger und unkultivierter Untermensch. Dieser hätte damit, nach der Lesart des angeblich zivilisierten arischen Herrenmenschen, in einem neuen Großdeutschen Reich kein Lebensrecht mehr. Für diese sog. „Parasiten des Deutschen Reichs“ blieb als logische Konsequenz nur die Endlösung mit Zyklon B.
Auch die Kirche war informiert, wie ein Appell vom 16. Juli 43 des Bischofs Wurm - der schon 1940 gegen das Euthanasie-Programm protestierte - an Hitler beweist: […] Die Liebe zu meinem Volk, dessen Geschicke ich als 75-Jähriger seit vielen Jahrzehnten mit innerster Anteilnahme verfolge und für das ich im engsten Familienkreis schwere Opfer gebracht habe, drängt mich aber dazu, es noch einmal mit einem offenen Wort zu versuchen. […] Für die lebenden, wie für die gefallenen evangelischen Christen Deutschlands wende ich mich als ältester evangelischer Bischof, des Einverständnisses weiter Kreise in der evangelischen Kirche gewiss, an den Führer und die Regierung des Deutschen Reiches. Nachdem die dem deutschen Zugriff unterliegenden Nichtarier in größtem Umfang „beseitigt“ worden sind, muss befürchtet werden, dass nunmehr auch die bisher noch verschont gebliebenen „privilegierten Nichtarier“ erneut in Gefahr sind, in gleicher Weise behandelt zu werden. Insbesondere erheben wir eindringlichen Widerspruch gegen solche Maßnahmen, die die eheliche Gemeinschaft in rechtlich unantastbaren Familien und die aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder bedrohen. Diese Absichten stehen, ebenso wie die gegen die anderen ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen, im schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Denkens und Lebens: Das gottgegebene Urrecht menschlichen Daseins und menschlicher Würde überhaupt. In der Berufung auf dieses göttliche Urrecht des Menschen schlechthin erheben wir feierlich die Stimme, auch gegen zahlreiche Maßnahmen in den besetzten Gebieten. Vorgänge, die in der Heimat bekannt geworden sind und viel besprochen werden, belasten das Gewissen und die Kraft unzähliger Männer und Frauen im deutschen Volk auf das schwerste; sie leiden unter manchen Maßnahmen mehr, als unter den Opfern, die sie jeden Tag bringen. Und in einem weiteren Appell im Dezember 1943 : […] dass wir als Christen diese Vernichtungspolitik gegen das Judentum als ein schweres und für das deutsche Volk verhängnisvolles Unrecht empfinden. Das Töten ohne Kriegsnotwendigkeit und ohne Urteilsspruch widerspricht auch dann dem Gebote Gottes, wenn es von der Obrigkeit angeordnet wird, und wie jedes bewusste Übertreten von Gottes Geboten rächt sich auch dies früher oder später. Diese Appelle wurden von Hitler nicht beantwortet und blieben vorerst ohne Folgen, da sie nicht in den Kirchen verkündet wurden. 1944 erhielt Bischof Wurm allerdings Schreib- und Redeverbot. Über den Rundfunksender London wurden die Appelle jedoch in norwegischer Sprache verbreitet. (Der Originalbrief kann im Internet unter „evangelischer Widerstand“ nachgelesen werden.)
Dass viele Deutsche den späteren Verschwörungstheorien der Holocaustleugnung gerne Glauben schenkten, ist aus psychologischer Sicht nicht verwunderlich. Damit konnte man den unvorstellbaren Vorwurf, Hitler sei ein millionenfacher Massen- und Kindesmörder gewesen, als Lüge der Siegermächte darstellen und sein eigenes Gewissen beruhigen, Hitler als von Gott gesandten Retter der deutschen Nation stilisiert zu haben und ihm bedingungslos gefolgt zu sein. („In Auschwitz wurde niemand vergast“, Friedrich-Ebert-Stiftung, entlarvt sechzig häufige Lügen, s. Literaturverzeichnis.)
In Abwandlung des Songtextes von Marlene Dietrich "Sag mir, wo die Blumen sind ...", wird die Frage nach dem Verbleib der Juden gestellt: "Sag mir, wo die Juden sind, wo sind sie geblieben? Über Gräber weht der Wind. Wann wird man je versteh'n?"
Die Nazis hatten eine "doppelte Buchführung" in Form eines eigenen Registers. Ihre Namen müssten in den weltweiten Datenbanken oder in den Opferdatenbanken zu finden sein.
Jeder einzelne unserer Generation muss sich allerdings die Frage stellen, ob er selbst der Verführung widerstanden hätte. Ein weiterer Versuch, das eigene Gewissen zu entlasten ist der Verweis auf Kriegsverbrechen anderer Völker. Der Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen Russland forderte den höchsten „Blutzoll des Zweiten Weltkrieges“ mit mindestens zwanzig Millionen Toten in der Sowjetunion (gegenüber sechs Millionen Deutscher). Dieser Zusammenhang als Ursache für russische Racheakte wurde und wird einfach unter den Teppich gekehrt und nur von den „bösen“ Russen gesprochen.
Der alte Spessartdoktor
Wie eine gefällte Eiche, deren Blätter und Zweige kraftlos wurden und langsam verdorrten, schwand Richards Vitalität. Ihm war, als ob ein Mühlstein auf seiner Brust läge. Gebeugt und mit schwerem Schritt stützte er sich auf seinen Stock. Er, der zeitlebens vor Ideen und Humor gesprüht und meist mehrere Projekte gleichzeitig verfolgt hatte, wurde immer schweigsamer, als fehlten ihm auf einmal die passenden Worte. Immer öfter fand Else ihren Vater gedankenverloren in seinem Lehnstuhl sitzend, den Kopf auf seine Hand gestützt, als ob er ihm durch all die verwirrenden Gedanken zu schwer geworden wäre. Sein langer Bart war weiß geworden wie sein schütteres Haar. Seine hellen blauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Er, der immer so gerne Konversationen geführt, dem man in geselliger Runde gerne zugehört hatte, wurde immer stiller. Er, der von einer plötzlichen Inspiration, selbst von jedem neuen Gedankenblitz so berauscht schien, dass er nie an seinem Erfolg gezweifelt hatte und dem es so mühelos gelungen war, seine Umgebung damit in den Bann zu ziehen, dass es der eigenen Familie manchmal sogar zu anstrengend wurde, ihm in seinen Gedankengängen zu folgen, wurde mit einem Mal bei alltäglichen Dingen unsicher. Richards Sprachlosigkeit wurde mehr und mehr zu einem Gefängnis, in das die Familie kaum noch eindringen konnte.
Dem Zusammenbruch seines Weltbildes, der Richard in seinen Grundfesten erschütterte, folgte ein Rückzug, in dem er sich immer häufiger nur noch danach sehnte, die quälenden Gedanken vergessen zu können. Wie gut, dass Mary diese Schreckenszeit nicht mehr erleben musste. Nach und nach legte sich der besänftigende Schleier des Vergessens über seine Verzweiflung und erlöste mit der Zeit die quälende Unruhe in ihm.
Читать дальше