Sean war sehr überrascht. Schon seit er sich erinnern konnte, hatte er Dudelsackmusik geliebt und lauschte entzückt, wenn ein Piper 14auf das Castle kam. Er nahm sich fest vor, Jaimie danach zu fragen.
„Jaimie muss doch in den Jahren eine Menge erlebt haben!“, dachte Sean laut vor sich hin.
„Ja! Er erzählte mir zum Beispiel, dass sie eines Nachts überfallen wurden. Aber das hat er nur mir und Rory verraten, die anderen sollen so etwas nicht erfahren“, sagte Arthur verschwörerisch.
„Wie ist denn das passiert?“, fragte Sean neugierig.
„Jaimie und seine Truppe hatten am Rand eines Waldes am Fluss gelagert und ausgerechnet bei seiner Wache hörte er es in der Ferne im Wald knacken. Es konnte kein Tier sein, dafür waren die Geräusche zu weitläufig. Also weckte Jaimie leise die anderen und sie haben sich in ihrem Wagen verbarrikadiert, um zu schauen, was da näherkam. Das Pferd blieb nachts immer locker eingespannt, damit es schnell parat sein konnte. Acht Leute kamen aus dem Wald gesprungen und sahen ziemlich gefährlich aus. Sie waren zerlumpt und abgemagert und scheinbar zu allem bereit. Jaimie und seine Freunde sind schnell losgefahren, doch einer ist von hinten auf ihren Wagen gesprungen.“
„Oje, was haben sie da gemacht?“
„Es gab einen Kampf, während sie schon gefahren sind, doch sie konnten den Halunken zum Glück aus dem Wagen werfen und davonfahren. Von da an waren die Musiker noch mehr auf der Hut.“
„Na Gott sei Dank! Ich habe von solchen Banden gelesen. Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass diese broken men bei der Landverteilung leer ausgegangen waren oder wegen Schulden von den Farmen vertrieben wurden. Sie müssen sich Banden von Gesetzlosen anschließen, damit sie durch Raub und Entführung ihren Lebensunterhalt verdienen. Banditi-Groups nennt man sie“, belehrte Sean seinen Freund.
„Aha.“ Arthur nickte kurz. Er mochte es überhaupt nicht, wenn sich Sean als Oberlehrer präsentierte.
„Will Jaimie jetzt hierbleiben?“, fragte Sean.
„Er weiß es noch nicht“, entgegnete Arthur.
„Ich bin jedenfalls schon gespannt, wie es mit Jaimie weitergeht. Was hat er noch so erlebt?“
Arthur erzählte eine Weile von Jaimies Erlebnissen, dann erhob sich Sean, da es langsam Mittag wurde. Er klopfte sich das Stroh von der Kleidung und verabschiedete sich von Vika. Arthur stand ebenfalls auf und begleitete ihn zurück.
***
Vier Monate später war Fiona gerade mit dem Aufräumen des Geschirrs ihrer kleinen Geburtstagsfeier fertig. Ich bin jetzt 38 Jahre alt , dachte sie bei sich. Wie immer hatten ihr ihre Eltern an ihrem Geburtstag am meisten gefehlt. Obwohl sie nie besonders liebevoll ihr gegenüber waren, hatte sie sie doch lieb und vermisste sie ab und zu. Fiona fragte sich immer wieder, warum ihre Eltern sie nicht besuchten, und traute sich selbst nicht, zu ihrem Elternhaus zu fahren.
Fiona erinnerte sich seufzend an ihre Kindheit. Sie wuchs auf einem kleinen Hof etwas außerhalb von Stonehaven auf und das Leben der Familie Bothain gestaltete sich sehr hart und beschwerlich. In der Gegend gab es nur wenige Bauern, weil nur ein geringer Teil des Bodens halbwegs fruchtbar war. Ihr Vater Russel war einer von ihnen. Die dünne Schicht Muttererde auf dem dunklen Schieferstein war nur schwer zu bewirtschaften.
Die meisten Leute verdienten sich deshalb ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei, und man sah zahlreiche kleinere und größere Fischerboote auf dem Meer vor der Küste von Stonehaven.
Russels kleiner Hof war seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Bothain, was so viel wie Haus aus Stein bedeutete. Das winzige Bauernhaus bestand tatsächlich aus Stein, genauer gesagt, aus dem dunklen porösen Schiefer der Region. Durch die wenigen kleinen Fenster schien nur selten Sonnenlicht herein und so war es in dem einzigen Wohn- und Schlafraum meistens halbdunkel.
Russel hatte neben dem Haus und dem Boden auch einen alten, schweren Holzpflug geerbt. Dieses große, traditionelle, schottische Landwirtschaftsgerät musste von sechs bis acht Gespannochsen gezogen werden. Doch niemand in der Umgebung hatte so viele dieser wertvollen Zugtiere, also mussten sich von jeher die Bauern zusammentun und sich gegenseitig ihre Ochsen leihen. Russels Familie war schon ewig mit den McNeills oben auf dem Hügel befreundet und die beiden Familien kümmerten sich gemeinsam um die Bestellung ihrer Felder. Fiona, ihre Mutter Jenna und die älteren ihrer Geschwister mussten auch mithelfen, wenn es mit Pflug, Sichel und Krummspaten ans Werk ging.
Die Felder waren in ungefähr dreizehn Meter langen und sieben Meter breiten S-förmigen Streifen, den sogenannten Rigs, angelegt. Fionas Vater meinte, dass das immer schon so gewesen war und dass die Seiten als Kanäle dienten, damit das Regenwasser ablaufen konnte. Das gestaltete sich bei dem sehr feuchten Boden als Vorteil. Jedoch erschwerte diese Form das Pflügen stark.
Das Unkraut wurde außerdem wachsen gelassen, da die Leute in ihrem Glauben dachten, dass es durch Gottes Gnaden seine Daseinsberechtigung hatte. Am Ende des Jahres konnten die Bauern aufgrund des kargen Bodens, des feuchten, kalten Klimas und der ineffizienten Anbaumethoden nur einen geringen Teil des angebauten Getreides (meistens Hafer und Gerste) in ihre Scheunen bringen. Als Gemüse wurden nur Rüben angebaut, etwas anderes wuchs in der Region nicht gut.
Nicht gerade ertragreicher gestaltete sich damals die Viehzucht. Wie die meisten Bauern in den südöstlichen Highlands hatte Fionas Vater Schafe, Ziegen und eine kleine Herde des zähen einheimischen Schwarzrindes.
Im Sommer war es üblich, mit dem Vieh in die Berge zu gehen und erst im Herbst zurückzukehren. Danach konnte man den kargen Ertrag der Felder ernten und ihn gemeinsam mit ungefähr einem Fünftel der Ziegen, Schafe und Rinder auf dem Markt von Stonehaven verkaufen.
Die Familie Bothain hatte in den Bergen eine kleine Hütte, in der sie den Sommer über hauste. Für Fiona war das eine öde Zeit. Der ständige Nebel und die kühlen Temperaturen machten das Leben nicht gerade angenehm. Sie hasste es, früh aufstehen zu müssen, um die Ziegen zu suchen und zu melken.
Außerdem gab es keinen Brunnen und so mussten sie sämtliches Wasser aus dem Fluss holen. Das Brennholzsuchen war besonders anstrengend. Es gab tagein tagaus Porridge, den geschmacklosen gekochten Haferbrei. Zum Glück konnte sich Fiona die Arbeit mit ihren Geschwistern einteilen.
Fiona freute sich immer schon auf den Herbst, wenn sie wieder in ihrem knarrenden Bett schlafen konnte. In der Hütte gab es keine Betten, sondern nur den harten mit Stroh bedeckten Boden. Im Herbst wuchsen außerdem Heidelbeeren, die auf den Hügeln und in den Mooren zu finden waren. Fiona pflückte sie gern, da sie den gewürzlosen Haferbrei etwas schmackhafter machten. Bloß blieb bei so vielen Mäulern nie viel für sie übrig.
Aber der Winter war weitaus schlimmer als der Sommer in den Bergen. Dann gab es nur noch Brei aus Gerstenmehl und Wasser, nicht einmal mehr Ziegenmilch. Die Bauern hatten kein Heu für die Tiere und somit verhungerte jeden Winter ungefähr ein Fünftel des Viehs.
Die überlebenden Tiere mussten im Frühjahr auf die Weiden getragen werden, weil sie so schwach waren. Dieses sogenannte highland lifting gestaltete sich jedes Mal als sehr anstrengend. Leider wurde der Viehbestand der Bauern nicht nur durch das fehlende Heu dezimiert. Es waren auch immer wieder Viehdiebe unterwegs, die die schwachen Tiere von den Weiden stahlen.
So sah das Leben von Fiona aus, als sie Kind und Jugendliche war. Die einzige Abwechslung in dieser Eintönigkeit waren die Markttage. Fiona musste beim Verkaufen der Ernte und des Viehs helfen und konnte so das rege Treiben auf dem für den kleinen Ort recht großen Marktplatz genießen. Stonehaven war ein Fischerdorf an der Küste und deshalb wurde hauptsächlich frischer Fisch verkauft. Fiona liebte es, die vielen Menschen zu beobachten, da die Familie Bothain sehr zurückgezogen auf ihrem Hof lebte.
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