Während Elisa so darüber nachdachte, hatte sie längst den Waldrand erreicht. Hier im Schutz der Bäume blies der Wind längst nicht mehr so stark und so kam die junge Frau von nun an wieder leichter voran. Mühelos fand sie den unsichtbaren Pfad, der auf die Lichtung führte und folgte ihm bis sie den Rand der Lichtung erreichte.
Als sie aber aus dem Wald heraustrat, staunte sie nicht schlecht. Milde Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht. Mit offenem Mund stand sie da und fragte sich, warum hier die Sonne schien, wo doch nur wenige Schritte weiter Sturm und Regen wüteten? Verwundert setzte Elisa sich auf einen Baumstumpf und wartete. Sie wurde von einer abstrusen Ahnung befallen, dass etwas geschehen würde, wenn sie nur lange genug wartete. Und so wartete sie eben.
Etwas würde ihr widerfahren, da war sich Elisa sicher. Sie wollte vorbereitet sein und daher beobachtete sie die Welt um sie herum ganz genau. So oft schon war sie hier gewesen, doch noch nie hatte sie die Lichtung derart eingehend betrachtet. Jetzt aber sah sie auf eigentümliche Art und Weise alles in einem anderen Licht. Einem Licht der Verwunderung und des zaghaften Zweifels.
Zum ersten Mal überhaupt stach ihr die Form der Lichtung ins Auge. Mit ihrer exakt kreisrunden Form wirkte sie gar nicht so, als sei sie natürlich entstanden, sondern als habe sie jemand bewusst so angelegt. Auch wuchsen hier keine Bäume oder Büsche, sondern nur Gras und Blumen. Sollten Lichtungen im Wald nicht dadurch entstanden sein, dass alte Bäume mit mächtigen Kronen umfielen und ein Stück vom Himmel freigaben?! Aber hier lagen keine alten Bäume. Und der kleine Bach, der hier floss? Sein Bett verlief hier so gerade und ordentlich, als habe er es gar nicht selbst gegraben. Dann der alte Apfelbaum mitten auf der Lichtung. Warum nur stand dort dieser Apfelbaum?
Wieso nur fielen Elisa plötzlich all diese Merkwürdigkeiten auf? Ihr war, als habe jemand den Vorhang der Welt für einen Augenblick zur Seite geschoben. Und nun – ob sie es wollte oder nicht – drängte es sie danach, zu erfahren, was sich wohl dahinter verbarg. Was hatte sie nicht gestern noch unbedarft in die Welt geblickt und sich einfach nur über deren Schönheit gefreut. Und heute? Heute schaute sie sich alles aufs Genaueste an und stellte Frage über Frage. Doch keine davon wurde ihr beantwortet. Stattdessen kamen immer neue Fragen hinzu.
Da fing sie bitterlich an zu weinen und wünschte sich, doch noch immer das kleine Mädchen von gestern zu sein. Warum nur konnte die Welt nicht einfach so bleiben, wie sie einmal gewesen war? War das zu viel verlangt?! Dicke Tränen rannen ihr über die Wangen.
„Weine nicht, Elisa“, sagte da eine Stimme zu ihr. Elisa hatte gar nicht bemerkt, dass sich ihr jemand näherte. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich hinter ihr. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Das also war es, was geschehen würde. Elisa musste nur noch bitterlicher weinen – vor Verzweiflung und vor Freude. Nein, diese Welt hier würde nie wieder, nie wieder einfach sein.
Der arme Janos wusste nicht recht, was er tun sollte. Nach einem Augenblick der Hilflosigkeit vertraute er auf seine Intuition. Er setzte sich einfach zu Elisa hin, streichelte sacht ihre Wangen und versuchte, ihr Trost zu spenden. Dabei fuhren seine eigenen Gefühle nicht minder Achterbahn. All die Jahre hatte er dieses schöne Wesen stets aus der Ferne beobachtet. Hatte gesehen, wie sie zu einer jungen Frau heranwuchs. Ihr Lächeln, ihre Schönheit und ihr zartes, aber starkes Wesen hatten ihn in ihren Bann gezogen. Nichts wünschte er sich so sehr, als ihr nahe zu sein. Sie zu berühren, ihr Worte ins Ohr zu flüstern und sie dabei zu liebkosen. Wie viele Male hatte er sich diesen einen Moment hier vorgestellt? Hunderte, ach tausende Male. Was er zu ihr sagen, wie er sie berühren wollte!
„Ach Elisa, ich...“. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte.
Beide lagen sie nun im Gras; waren sich so nahe, dass sie den Atem des anderen spürten. Ihre Herzen schlugen wild, ihre Blicke trafen sich und Elisas Tränen versiegten. Die Verzweiflung wich der Erregung. Worte mussten, konnten keine mehr gesprochen werden. Sie küssten sich. Wild und leidenschaftlich. Angst, Sorgen und unerfülltes Begehren brachen in sich zusammen, als ihre Lippen sich aufeinander pressten. Spielerisch liebkosten und entdeckten sie einander. Erst schüchtern, dann immer fordernder glitten ihre Finger über den Körper des anderen. Nach und nach fielen ihre Kleider zu Boden, bis sie völlig nackt einander umschlungen. Überrascht von ihrer Leidenschaft hielten sie kurz inne, nur um sich dann einander vollends hinzugeben und nach dem Himmel zu greifen.
Erschöpft sanken sie hernach ins Gras und hielten einander in den Armen. Elisa legte ihren Kopf auf Janos Brust und lauschte dem Schlag seines Herzens. Der junge Mann hielt sie fest und streichelte ihr sachte durchs Haar. Während Elisa glücklich war, wusste er nicht recht, wie er sich fühlen sollte. All die Jahre hatte er sich nach seiner Elisa verzehrt. Nun war der Augenblick gekommen – sie lag in seinen Armen – doch ein Triumphgefühl wollte sich nicht recht einstellen. Erleichterung, ja das verspürte er. Und weiter? Mehr als alles andere fühlte er große Schuldgefühle in sich aufsteigen. Er ahnte, dass er einen sehr großen Stein ins Rollen gebracht hatte, der nicht mehr aufzuhalten war. Wo das alles hinführen würde, das wusste Janos nicht. Das wussten sie beide in diesem Augenblick nicht. Hier und jetzt lagen sie einfach nur da, eng umschlungen und hielten einander fest.
„Es tut mir so leid Elisa“, sagte Janos irgendwann aus ganzem Herzen bedauernd.
„Es braucht dir nicht Leid zu tun. Ich wollte es doch ebenso“, antwortete Elisa und fröstelte. Die Sonnenstrahlen vermochten die beiden Menschen nicht mehr genügend zu wärmen, weshalb die Liebenden ihre Kleider wieder überzogen. Eine Weile noch saßen sie sich gegenüber und schauten einander an. Janos war hingerissen von ihrer Schönheit und stöhnte innerlich. Da saß sie und war zum Greifen nah und doch gab es so entsetzlich viel, was sie voneinander trennte.
Auch Elisa betrachtete ihren Geliebten. Sie war so glücklich, dass alles andere vorerst in den Schatten trat. Was hatte sie ihn nicht vermisst! All die schönen Bilder ihrer Kindheit mit ihm purzelten ihr wieder durch den Kopf. Früher waren sie beide unzertrennlich gewesen. Waren durch Wald und Wiesen getollt; hatten Streiche ausgeheckt und unendlich viel gelacht. Die Lachgrübchen des Jungengesichtes waren ihr am besten in Erinnerung geblieben. Und sie waren immer noch da, darüber war die junge Frau herzensfroh. So viel sie auch in ihm noch den jungen Freund erkannte, der, der ihr nun gegenüber saß, war er ihr doch völlig fremd: so voller Ernst und Bekümmertheit. Was er wohl für ein Leben führte? Wie war es da, wo er herkam? Dies fragte sich die junge Frau und traute sich zugleich nicht, die Frage laut zu stellen.
Der Moment des Glücks war vorbei und die Wirklichkeit hatte sie beide wieder.
„Machen wir uns nichts vor“, sagte Elisa dann. „Ein friedliches und glückliches Leben scheint uns beiden nicht vorherbestimmt zu sein“. Als Frau war es ihre Aufgaben, den Tatsachen ins Augen zu blicken und sich nicht Träumereien hinzugeben. Janos lächelte schief.
„Hm, friedlich und glücklich würde ich so etwas wahrhaftig nicht nennen“, sagte er. Sein Lächeln wich nun einem gequälten Gesichtsausdruck. Hätte er sie doch nur in Ruhe gelassen! Hätte er Stefan doch bloß nicht unter irgendwelchen Vorwänden auf die Lichtung geschickt. Und warum hatte er sie im fahlen Mondschein unbedingt berühren müssen?! Dann, ja dann wäre nie etwas geschehen und sie hätte einfach so ihr ruhiges Leben weiterleben können. Aber nein, er hatte sich ja nicht beherrschen können. Und nun? Darüber hatte er sich leider keinerlei Gedanken gemacht.
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