1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 „Stefan!“ Jakob schüttelte den Kopf. „Was hattest du denn auf der Lichtung zu suchen? Du weißt doch, dass Elisa immer wieder dorthin geht. Gerade an Tagen wie heute!“
„Ich. Äh“, stammelte der Angesprochene und zuckte dann nur müde mit den Schultern.
„Ich hätte Elisa gerne langsam und behutsam darauf vorbereitet, meine Nachfolgerin zu werden. Aber nein, jetzt muss alles hoppladihopp gehen.“ Jakob hielt kurz inne und blickte vorwurfsvoll zu Janos.
„Und du hast nichts besseres zu tun, als Elisa heimlich aufzulauern und ihr noch mehr den Kopf zu verdrehen?!“ Jakob schüttelte den Kopf.
„Na und, sie wird doch sowieso bald von all dem hier erfahren. Also warum soll ich sie nicht jetzt schon sehen dürfen?“, entgegnete Janos schroff. In seinen Augen lag der Trotz eines kleinen Jungen.
„Weil es nicht geht!“, donnerte Jakob. „Das ist gegen jede Regel. Und darum hat es auch keine Zukunft. Sei doch nicht so dumm!“ Im Grunde konnte Jakob dem jungen Mann, der ihn gerade so trotzig anschnauzte, nicht wirklich böse sein. In gewisser Weise verstand er ihn besser, als Janos wohl ahnte. Er kannte die Gefühle und Beweggründe eines jungen, vor Kraft strotzenden Mannes nur zu gut. Aber diese Verbindung zwischen Janos und Elisa war aberwitzig und würde am Ende den Codex sprengen. Und wenn das geschah, dann waren sie alle verloren; alle mit Mann und Maus. Restlos. So viel Einsicht konnte Jakob aber von Janos beileibe noch nicht erwarten.
„Regeln. Regeln“, ereiferte Janos sich nun weiter. „Zum Teufel mit den Regeln! Wo bleiben denn wir? Tag für Tag schuften wir hier brav für alle. Ohne zu murren, ohne zu jammern. Wer dankt es uns? Niemand. Die da drinnen wissen ja gar nicht mal, dass es uns gibt. Warum sollen wir denn auf alles verzichten, nur damit die da“, Janos zeigte auf den Bildschirm hinter Jakob, „in Ruhe und Frieden leben können? Ich hab auch meine Träume und Sehnsüchte. Und verdammt nochmal, ich will auch etwas von meinem Leben haben. Wie wir alle!“
Als er dies sagte, blickte Janos in die Runde und erhielt nickende Zustimmung von den anderen, die solche Worte gar nie in den Mund genommen hätten.
Jakob seufzte. Bis vor kurzem hatte er noch geglaubt, es wäre alles halb so schlimm und die kleinen Missgeschicke ließen sich schon wieder ausbügeln. Doch nun stellte er bedrückt fest, dass dem nicht so war. Ihr aller Leben war in Aufruhr geraten. Weshalb bloß? Was hatte er falsch gemacht? Da standen sie nun – die paar Leutchen – sahen ihn unverhohlen an und warteten auf seine Antwort. Was sollte das werden? Eine Meuterei? Das wiederum belustigte den Mann mit den wehenden, grauen Haaren.
Er überlegte sorgfältig, ehe er ihnen etwas antwortete: „Da sagst du etwas Wahres, Janos. Ihr dürft aber nicht vergessen, dass ich selbst nur einer von euch bin. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin zwar der, der zwischen unseren Welten hier hin und her wandelt. Aber das macht mich eher zu einem Außenseiter auf beiden Seiten. Glaubt ihr, ich hätte nicht selbst Träume und Wünsche so wie ihr hier. Niemand von euch weiß, wie viele Stunden ich darüber schon abgrundtief traurig war. Doch was soll ich, was sollen wir tun? Ihr kennt alle so gut wie ich das Gebilde, in dem wir leben. Ihr wisst, wie es funktioniert. Wir wissen alle, dass es nur noch existiert, weil wir zusammenhalten. Wir sind nunmehr die Letzten. Regeln hin. Regeln her. Es ist eine Frage des Überlebens. Sein oder Nichtsein, das ist die Frage, vor der wir stehen. Und ich, ich will leben!“ Jakob hatte reihum jedem einzeln in die Augen geblickt, als er seine wohlüberlegten Worte sprach. Er fühlte den Zwiespalt, das Verlangen jedes Einzelnen.
„Aber das ist doch kein Leben!“, haderte Janos noch immer, aber schon merklich leiser.
„Nein, das ist es wahrhaftig nicht. Aber die, die daran die Schuld tragen, können wir leider nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Die sind längst zu Staub zerfallen.“ Jakob legte Janos tröstend die Hand auf die Schultern.
„Ich weiß, wie hart es ist, sich jeden Morgen von neuem aufzurichten und weiterzumachen. Kommt, lasst uns noch einmal unsere Vorfahren heraufbeschwören, damit sie uns ihre Botschaft, unseren Codex, vermitteln. Nur wegen dieser Regeln sind wir noch am Leben. Und wegen des Codex sind auch noch all die Menschen am Leben, die wir am meisten lieben. Das dürft ihr nie vergessen.“
Der letzte Satz verfehlte seine Wirkung nicht. Hatte doch ein jeder Eltern und Geschwister dort drinnen. So brach Janos Widerstand und der der Gruppe in sich zusammen. Müde und zermürbt suchten sich alle einen Sitzplatz. Jakob drückte ein paar Knöpfe und setzte sich mitten unter sie. Sie alle hatten dies schon unzählige Male erlebt. Die Tür ging auf und ein großer, erhaben aussehender Mann trat ein. Ihm folgten noch zwölf weitere Männer, die sich jedoch still im Hintergrund hielten. Tamron, so hieß der Anführer, begann zu sprechen. Er fand immer wieder die richtigen Worte, die es vermochten, sie auf wundersame Weise auf den rechten Pfad zurückzuführen und ihnen neue Kraft zu geben. Worte, die unmittelbar ihre Herzen berührten.
4. Kapitel
in dem es Frühstück gibt, einen Spaziergang und eine unheilvolle Versammlung
Kaum dass die Sonne aufgegangen war, erwachte Elisa. Ihr Schlaf war sehr unruhig gewesen. Wirre Träume hatten sie kaum zur Ruhe kommen lassen. Mal sah sie sich in einer Einöde stehend, weit und breit keine Pflanze, kein Tier, keine Menschenseele. Neben ihr stand Jakob und erzählte ihr irgendetwas von Vorfahren, Tragödie und Wandel.
In einem anderen Traum fand sie sich in einem unbekannten, fremdartigen Zimmer wieder. Alles war aus Metall und glänzte. Sie lag nackt auf einem Bett, nur von einem dünnen Laken verhüllt. Vor dem Bett stand ein junger Mann und schaute sie einfach nur an, sagte nichts, tat nichts. Als sich Elisa nun überaus lebhaft an diesen Traum erinnerte, schoss ihr das Blut ins Gesicht und prickelndes Verlangen überwältigte sie. Einen sehnsuchtsvollen Moment lang gab sie sich diesem Gefühl hin, dann schlug sie die Bettdecke zurück, stand auf und schlüpfte in ihre Kleider.
Wie jeden Morgen brachte sie ihr Bettzeug gewissenhaft in Ordnung, öffnete das Fenster und ließ ein wenig frische Morgenluft durch die kleine Öffnung ins Zimmer strömen. Dabei blickte Elisa zum Fenster hinaus und sah zu, wie das Licht des Tages heraufzog. Sie blickte über die Dächer ihres Dorfes hinweg bis hin zu den Bäumen der Allee, die sich aus ihrem nächtlichen Grau herausschälten und für den Tag herausputzten. Hier und da sah Elisa Rauch aus den Schornsteinen emporsteigen. Das Dorf erwachte.
Eines brachte dieser Morgen aber nicht mit sich: das Ende des Regens. Immer noch fiel dieser in die Kleider kriechende Regen und gar war es so, als ob er immer stärker würde. Elisa schüttelte sich, so kalt wurde es ihr plötzlich.
Schnell schloss sie das Fenster und schob die trüben Gedanken beiseite. Sie machte sich lieber daran, den Tag beginnen zu lassen. Und zwar mit einem ausgiebigen Frühstück. Elisa kletterte die schmale Stiege hinunter in die Küche und begann damit, sich um das Frühstück zu kümmern.
Das restliche Haus lag noch still und so bereitete sie eben alles ganz alleine vor. Wie abends zuvor entfachte sie zunächst das Feuer im Herd, ging dann hinaus in den Hof zum Brunnen und kehrte mit einem großen Eimer voll klarem Wasser in die Küche zurück. Das Feuer knisterte mittlerweile schon frech vor sich hin und so stellte sie das Teewasser auf. Anschließend ging sie wieder hinaus in den Hof und kümmerte sich um die Tiere des kleinen Hofes. Vor allem die Kuh musste gemolken werden. Mit dem Eimer voll frischer Milch kehrte sie zurück in die Küche, wo Elisa beinahe mit ihrer Mutter zusammenstieß, die noch ein wenig schlaftrunken herein gewankt kam.
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