„Morgen, Mutter“, sagte Elisa gutgelaunt.
„Morgen“, gähnte Eva mehr, als dass sie es sagte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Solch eine Laune am frühen Morgen war für ihre Tochter eher ungewöhnlich. Was mochte da wohl dahinterstecken? Eva war aber dann doch noch zu verschlafen, um schon ein mütterliches Verhör durchführen zu können. Daher ließ sie es erst mal dabei bewenden und fragte nicht weiter nach. Vorerst.
Gemeinsam arbeiteten Mutter und Tochter nun Hand in Hand. Während Elisa sich um den Tee für die Frauen und die Milch für die Männer kümmerte, mischte Eva etwas Milch und Honig unter den Getreidebrei und schnitt dann kleine Apfelstücke hinein. Für jeden eine Portion in kleinen Schalen. Die stellte sie dann auf den Tisch. Mittlerweile köchelte auch das Teewasser und Elisa goss damit den Apfeltee auf. Sie hatte großen Hunger auf Frühstück. Als alles fertig war, setzte sie sich an den Tisch und begann zu löffeln. Dabei glänzten ihre Augen träumerisch, was ihrer Mutter ganz und gar nicht entging.
Was war hier los?, fragte sich Eva verwundert. Da saß ihr Mädchen an dem großen Tisch und war mit ihren Gedanken wer weiß wo. Überhaupt benahm sich Elisa seit gestern doch überaus seltsam. Ja und was hatte sie denn mit Jakob alleine zu besprechen gehabt? Evas Neugier war geweckt; sie wetzte bereits in Gedanken die Messer für das bevorstehende mütterliche Verhör. Darin war sie eine wahre Meisterin. Eva holte beiläufig noch ein paar Tassen aus dem Schrank, nahm dann die Teekanne mit auf den Tisch und setzte sich Elisa gegenüber. Mit durchdringendem Blick sah sie ihre Tochter an.
„So, dann erzähl mal!“ Das Verhör begann.
„Was? Wie?“, fuhr Elisa erschrocken aus ihren Gedanken hoch. Sie fühlte sich ertappt und zu allem Überfluss schoss ihr auch noch eine unverkennbare Röte ins Gesicht.
Dass ihre Tochter sich so schnell verriet, überraschte selbst Eva. Aber konnte es denn möglich sein? Ihre Tochter war verliebt! So musste es wohl sein.
„Wer ist es denn, an den du dauernd denkst?“, hakte Eva nach.
„N...niemand“, stotterte Elisa.
„Ts, ts. Wegen niemand fängt man aber nicht an zu stottern“. Eva nahm sie in die Zange.
„Es ist niemand!“, protestierte Elisa zaghaft. Unter dem gestrengen Blick ihrer Mutter knickte sie jedoch schnell ein: „Niemand, den du kennst“.
„Papperlapapp. Ich kenne alle, die hier wohnen. Also kenne ich ihn auch! Wer ist es denn? Doch dieser Miguel? Ja? Hach, ein bildschönes Jüngelchen. Und bestimmt heißblütig. Aber noch so jung.“ Eva war nun richtig in Fahrt. Ihre Tochter war verliebt. Wenn das mal kein Grund zur Freude war. Die schönsten Bilder schwirrten ihr im Kopf herum: Elisas vorbildliche Hochzeit, die Enkelkinderchen auf ihrem Schoß. Daran konnte sie sich durchaus gewöhnen.
„Mutter, so einfach ist das leider nicht“, sagte Elisa nun ernst. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen und sah erschrocken, dass ihre Mutter sich gedanklich bereits irgendwelchen Fantasien hingab.
„Ach Kindchen, du brauchst doch keine Angst zu haben. Wenn du willst, dann reden wir mal über alles in Ruhe. So von Frau zu Frau. Da gibt es noch einige Dinge, die du wissen solltest. Wie das mit den Männern und den Frauen halt so ist“, meinte Eva und gab ganz die aufgeklärte Mutter.
Elisa schaute sie nur schief an. Das meinte ihre Mutter doch wohl nicht ernst?! Als Elisa sie aber eingehender betrachtete, wusste sie, dass jedes weitere Wort zwecklos war. Ihre Mutter würde sie doch nicht verstehen.
Bevor das Gespräch zwischen Mutter und Tochter weitergeführt werden konnte, kamen Elisas Vater und Bruder aus ihren Betten hervorgekrochen und setzten sich mit kleinen Augen an den Frühstückstisch. Peter blickte verwirrt von seiner Frau zu seiner Tochter. Er sah seine Frau versonnen und lächelnd ihren Brei löffeln. Auf der anderen Seite saß Elisa, die kopfschüttelnd ihren Tee trank.
Ratlos zuckte er mit den Schultern und entschied sich dafür, lieber nicht nachzufragen. Schließlich sollte man keine schlafenden Hunde wecken. Daher widmete er sich voll und ganz seinem Frühstück. Seine Erinnerungen an das abendliche Fest waren noch sehr lebendig, besonders die kulinarischen. So stellte er sich vor, statt des Breis hätte er eine Schweinshaxe vor sich. Und Peter hatte durchaus eine blühende Fantasie.
„Hm, ist das lecker“, entfuhr es ihm mit einem Mal. Eva und Elisa schauten irritiert, Matthias unterbrach sein Schmatzen.
„Hast wohl zu viel Bier getrunken?“, flachste Eva und alle mussten lachen. So saßen sie einträchtig, zweiträchtig beieinander und aßen ihren Brei. Nach dem Frühstück löste sich die Runde jedoch sehr schnell wieder auf. Peter verschwand mit Matthias im Stall. Eva räumte das Geschirr ab. Zu ihrer Tochter gewandt sagte sie mit einem unzweideutigen Augenzwinkern: „Geh nur Elisa, du hast bestimmt Wichtigeres zu tun, als mir hier in der Küche zu helfen“.
Nun war Elisa vollends genervt und zog es daher auch liebend gern vor, sich von dannen zu machen. Sie warf sich ihre dicke Wolljacke über und trat hinaus auf die Straße. Es war ein sehr stürmischer und verregneter Morgen.
Immer noch war es der gleiche Regen, der seit der vorigen Nacht unaufhörlich auf die Erde hernieder fiel und Elisa schon am zeitigen Morgen hatte frösteln lassen. Dass der Regen bedrohlich war, spürte Elisa sofort, als sie auf die Straße hinaustrat. Aber sie unterdrückte ihre Angst. Schließlich war es doch nur Regen. Und liebte sie nicht den Regen? Die Welt lag dann ganz ruhig da. Bei solchem Wetter schlenderte Elisa gerne einfach so durch die Straßen ihres Dorfes.
Außer Elisa wagte sich heute allerdings keine Menschenseele freiwillig hinaus. Daher war Elisa ganz allein und betrachtete ungestört den Himmel. Spürte den Sturm, der dunkle Wolken vor sich her trieb, fühlte die Regentropfen in ihrem Gesicht. Ihre dicke Wolljacke hielt aber so gut wie jedes Wetter von ihr ab und so machte sie einen langen Spaziergang durch Wiesen und Felder. Währenddessen dachte sie viel nach: über sich, über die Welt, über ihr verliebtes Herz.
Sie kam erst nach ein paar Stunden wieder zurück ins Dorf und ging gerade unter der Kastanie in der Mitte des Dorfplatzes hindurch, als sie gefunden wurde. Von Jakob. Er hatte sie bereits gesucht. Langsam ging er auf Elisa zu und stellte sich mit ihr unter den Baum. Die mächtige Krone der Kastanie hielt ihnen den Regen ab.
„Der Regen macht dir keine Angst. Nicht wahr?“, sagte Jakob zu seiner Nichte. „Du magst ihn sogar.“ Elisa überlegte. Zwar war der Himmel im Lauf des Morgens immer schwärzer geworden und der Regen hatte schon etwas Bedrohliches an sich, aber Angst hatte sie bisher nicht verspürt.
„Ich mag das Geräusch, wenn die Tropfen auf die Blätter fallen. Ich mag es zuzusehen, wie der Wind die Wolken vor sich her treibt. Das hat etwas Beruhigendes“, gab sie ihrem Onkel zur Antwort.
„Du bist schon ein sonderbarer Mensch“, sagte Jakob und schüttelte den Kopf. „Für die anderen hat der Regen etwas Beängstigendes. Besonders der lang anhaltende Regen wie dieser hier, der nichts Gutes verheißt. Und erst die Gewitter, die uns die Irratio in ihrem Zorn schicken. Wenn die Blitze vom Himmel zucken, wenn der Donner erdröhnt, dann wissen wir, dass wir etwas Falsches getan haben. Dass wir gegen die Regeln verstoßen und damit den Zorn der Irratio heraufbeschworen haben. Gewitter, Sturm und Regen sind die Zeichen dafür, dass sie besänftigt werden wollen. Sie fordern ihr Opfer ein. Vielleicht ein Teil der Ernte oder einen geliebten Menschen, wer weiß das schon. Das alles weißt du und trotzdem hast du keine Angst?“ Elisa wiegte den Kopf hin und her.
„Vor den Irratio habe ich Angst“, sagte sie melancholisch. „Ja, das stimmt. Aber nicht vor Donner, Sturm oder Regen. Sie sind doch ein Teil der Natur, ein Teil der Welt, in der wir leben. Und die Natur ist uns doch nicht böse gesinnt.“
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