Sepp hatte sich, noch bevor Marta zum Bus gegangen war, in den Garten begeben. Die Tomaten waren zwar schon eingepflanzt, aber es gab noch genug zu tun. Die Erde musste für den Mangold, die rote Beete und die Radieschen vorbereitet werden.
Außerdem musste er zwei abgestorbene Thujas entfernen. Das würde ihn in seinem Alter viel Kraft und Zeit kosten, aber er lebte gemäß des Mottos Wer rastet, der rostet . Also machte er sich an die Arbeit. Er trieb die Hacke in den Boden, um das Erdreich um das frisch gewachsene Unkraut aufzulockern. Marta würde sich später hinzugesellen, ihre Ritsche hinstellen und das schon herausgezogene Unkraut aufklauben. Nachdem das aber erst nach ihrer Rückkehr und dem Mittagessen der Fall sein würde, widmete er sich nun zunächst den Thujas. Dazu schnitt er die vertrockneten Äste ab und warf sie in die bereitgestellten Behälter für Gartenabfall. Lorenz würde sie dann später zum Friedhof fahren, zur Annahmestelle für Gartenabfälle. Dort konnte man sich im Gegenzug frische Erde mitnehmen. Ein guter Deal, wie er fand. Er hatte gerade die ersten Äste abgeschnitten und war vertieft darin, die Erde um die Wurzeln herum auszuheben, da vernahm er Geräusche. War das ein Vogel? Es hörte sich sehr schön an, aber auch ein wenig klagend. »Um Gottes Willen, ich hoffe, ich habe jetzt kein Nest zerstört? Aber wo sollte denn in dem kaputten Baum etwas nisten, das hätte ich doch gesehen. Was ist das dann?« Sepp legte die Baumschere weg, streifte sich die trockenen Ästchen von Kopf und Schultern und hörte nun genauer hin. Er vernahm nun einzelne Wörter. Zwar verstand er nichts, aber er erkannte, dass das unmöglich ein Vogel sein konnte. Ist das vielleicht ein Papagei oder so ein ... ein Beo? Aber wieso sollten solche Vögel hier sein? Wild schon gar nicht und in der Nachbarschaft hat auch niemand so einen Vogel. Moment, vielleicht haben die neuen Nachbarn ja einen mitgebracht? Je länger Sepp lauschte, desto sicherer war er, dass der Gesang nicht von einem Tier kommen könnte. Er meinte auch, im Hintergrund eine Gitarre oder etwas Ähnliches zu hören. Er ging also näher an den Zaun und bog die noch intakten Thuja-Äste zur Seite. Die Veranda bei den neuen Nachbarn stand offen, allerdings war niemand darauf zu sehen. Zu hören war der Gesang nun aber deutlich besser, die Thujahecke schien eine gute Geräuschisolierung zu sein. Das muss die Nachbarin sein. Mein lieber Scholli, das klingt wirklich schön. Syrien, newahrnein? Ist das dann Arabisch, was sie singt? Egal, es klingt gut. Und ich habe zuerst an einen Vogel gedacht. Du bist der mit dem Vogel , dachte sich Sepp. Das Lied schien ewig zu gehen, zumindest hatte Sepp das Gefühl, dass er schon sehr lange in der Hecke stand und bewegungslos zuhörte. Untermalt wurde ihr Gesang von einer Gitarre oder einer Zitter oder etwas Ähnlichem. Ob sie das Instrument spielte oder ob es vom Band kam, erkannte Sepp nicht. Er konnte von seiner Position aus nicht direkt ins Haus schauen. Die Nachbarin stimmte noch zwei weitere Lieder an. Heiterkeit und pure Melancholie wechselten sich dabei ab. Sepp war richtig mitgerissen. Mittlerweile stand er schon eine knappe halbe Stunde im Gebüsch und lauschte und verlor sich in seinen Gedanken. Dann, nach dem dritten Lied, war minutenlang nichts zu hören. Sepp kam wieder ins Hier und Jetzt zurück und besann sich seiner Aufgaben im Garten. Oh weh, ich habe noch so viel zu tun, bevor es Essen gibt! Er wollte aber nicht undankbar erscheinen, denn er hatte den Ausflug in eine für ihn bislang fremde Welt sehr genossen. Also begann er, zu klatschen. Keine dreißig Sekunden später trat die Nachbarin vorsichtig auf die Veranda und schaute sich um, woher das Geräusch kam. Als sie Sepp erblickte, wie er in der Thujahecke an ihrem Zaun stand, zu ihr schaute und klatschte und ihr dann noch einen nach oben gerichteten Daumen zeigte, erschrak sie, errötete und sprang ins Haus zurück. Mit einem Zug schob sie die Verandatür zu und ließ Sepp klatschend zurück. Ihr Verhalten hatte ihn irritiert, weswegen er schließlich seinen Applaus beendete. Sowas komisches. Habe ich etwas falsch gemacht? Wieso war sie denn so erschrocken, ich habe doch nur geklatscht? Sehr komisch. Sepp kratzte sich am Kopf und besann sich schnell wieder seiner eigentlichen Aufgabe. Er kappte schnell die restlichen Äste und beschloss, später Lorenz für die richtig schweren Aufgaben – den Stamm durchsägen und die Wurzel ausheben – einzubinden. Wieso war sie so schreckhaft? Hätte ich mich vielleicht erstmal vorstellen sollen? Aber das ist doch doof: Sie singt und ich schlappe rüber und sage: Hallo, ich bin der Sepp. Was singen Sie denn da Feines? Vielleicht darf sie auch mit keinen anderen Männern sprechen? Aber gut, gesprochen habe ich ja auch nicht, nur geklatscht. Egal, ich muss mich jetzt umziehen, sowas Blödes. Während Sepp im Schlafzimmer ein frisches Hemd anzog, kam Marta gerade durch die Haustür. Sie hatte doch etwas länger als geplant in der Stadt verbracht und musste sich nun etwas mit dem Mittagessen sputen. Gut, dass wir nur eine kalte Platte machen und heute Abend dann richtig kochen, dann komme ich jetzt nicht in die Bredouille. Marta wäre eigentlich viel früher daheim gewesen, wenn sie direkt zum Metzger gegangen wäre. Stattdessen hatte sie sich für etwas mehr als eine halbe Stunde auf eine Parkbank gesetzt und über ihre Begegnung mit Frau Schappert nachgedacht. Sie war traurig gewesen und auch etwas wütend. Aber eigentlich hätte sie darüberstehen müssen. Das ist doch alles Blödsinn, was diese ahle Gake von sich gibt. Seit vierzig Jahren hast du von dieser Frau nichts Gescheites gehört und trotzdem kann sie dich noch ärgern. Das muss aufhören. Damit hatte Marta aufgehört, Trübsal zu blasen und stattdessen noch für ein paar Minuten die Stille im Park genossen. Abseits von ein paar Spaziergängern mit ihren Hunden waren ihr nur zwei Eichhörnchen und eine Blaumeise begegnet. Hier konnte sie ordentlich durchatmen.
»Danke nochmal fürs Abholen, Schatz. Der Busfahrer hätte doch sehen müssen, dass ich angerannt komme, wieso fährt der dann einfach los? Die Stunde mehr warten hätte ich jetzt nicht wollen.«
Paula war am Morgen ebenfalls mit dem Bus in die Stadt gefahren. Da sie aber gleich um 8 Uhr morgens einen Arzttermin gehabt hatte, konnte sie nicht zusammen mit ihrer Mutter fahren.
Nach dem Arzt hatte sie noch einen kurzen Stopp im Drogeriemarkt eingelegt und sich dadurch leicht am Busbahnhof verspätet.
Der Bus stand zwar noch da und die Türen waren geöffnet. Gerade als Paula aber die Plattform betrat, schlossen sie sich.
Alles Rufen und mit den Armen winken hatte nichts geholfen. Der Busfahrer setzte die Hydraulik in Bewegung und fuhr los. Er hinterließ eine leicht schwitzende, genervte Paula auf dem Abfahrtssteig.
»Alles gut, Paula. Ich war ja eh noch im Getränkemarkt, von dort ist es ja fast kein Umweg. Ist echt blöd, dass der einfach weggefahren ist. Der war wahrscheinlich schon verspätet, sonst hätte er sicher noch eine Minute warten können. Wie lief‘s denn?«
»Ach ja, alles gut soweit. Er hat halt das Übliche gesagt: ich soll mich etwas mehr bewegen, ich soll mehr auf eine gesunde Ernährung achten und ich soll weniger trinken. Das ist doch auch immer das Gleiche! Wobei, ganz zum Schluss war es noch seltsam: er hat mir empfohlen, dass ich mir ein Hobby suche. Irgendwas, was mich erfüllt und was mir Freude bereitet. Ich habe dann kurz überlegt, ob ich bei meinem Hausarzt oder doch beim Psychiater nebenan gelandet bin. Aber nun gut. Ich habe ihn dann gefragt, was er mir da empfehlen könnte.«
»Und? Was hat er dir empfohlen?«
Lorenz interessierte die Antwort sehr. Die beiden waren nun knapp dreißig Jahre verheiratet und seine Frau hatte seines Wissens nie ein Hobby gehabt. Vielleicht in ihrer Jugend, das wusste er nicht oder nicht mehr. Aber seitdem sie verheiratet waren, hatte sie weder einen Sport ausgeübt noch sich künstlerisch oder sozial betätigt.
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