Marie Louise Fischer
Saga Egmont
Wie neu geboren
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1993 by Lübbe Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711740132
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Als sie erwachte, wußte sie nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ein Traum hielt sie umfangen, der sie zutiefst erschreckt hatte. Ihr Herz klopfte heftig, aber immerhin erkannte sie nun, daß es nur ein Traum gewesen war.
Er hatte fröhlich begonnen. Sie war ein kleines Mädchen gewesen, schöngemacht, in einem weißen, reich gesmokten Kleidchen. Glänzende braune Locken waren auf ihre Schultern gefallen. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt inmitten anderer, ebenfalls herausgeputzter Kinder. Ein Fest wurde gefeiert. Was für ein Fest?
Julia konnte sich nicht mehr erinnern. Aber es hatte im Freien stattgefunden. In einem Garten? Einem Park? Einem Hinterhof?
Waren Erwachsene dabeigewesen? Sicher nicht. Ein Erwachsener wäre ihr bestimmt zu Hilfe gekommen.
Julia lag mit geschlossenen Augen da, angestrengt bemüht, den bösen Traum zu bannen.
Jemand hatte ihr im Traum ein Tuch vor das Gesicht gebunden. Kräftige kleine Hände stießen sie um sich selbst herum, bis ihr schwindelig wurde und sie ins Taumeln geriet.
Noch war alles zum Lachen, ein Spiel. Blinde Kuh. Sie wußte, sie mußte nun versuchen, die anderen zu fangen.
Alle waren zum Greifen nahe. Sie zupften sie an ihrem schönen Kleid und an den Locken. Jemand stupste sie sogar mit dem Finger auf die Nasenspitze. Aber wenn sie jemanden erhaschen wollte, streifte sie immer nur vorbei.
Doch plötzlich hatte sich die Szene geändert, ohne daß sie es sogleich gemerkt hätte. Sie war fortgefahren, die Hände auszustrecken, sich um sich selbst zu drehen, hierhin und dorthin ein paar Ausfallschritte zu machen, bis sie endlich begriff, daß niemand mehr da war. Alle hatten sie verlassen. Sie war ganz allein. Und die Binde um ihren Kopf war wie ein eiserner Ring.
Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Entsetzen packte sie. Ihr war, als wäre sie ausgestoßen und geächtet — für immer.
Julias Herzschlag beruhigte sich. Es war nur ein Traum gewesen, ein ganz dummer Traum, der nichts zu bedeuten hatte.
Oder doch? Die Augenbinde trug sie noch immer. Julia faßte sich an die Stirn.
»Nein«, ertönte eine kühle, helle Stimme, »Frau Palmer, das dürfen Sie nicht. Der Herr Professor hat es Ihnen doch erklärt, nicht wahr?« Julia fühlte, wie jemand ihr Handgelenk umfaßte und ihren Arm sanft, aber energisch hinunterdrückte. »Haben Sie das ganz vergessen?«
Julia versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. »Ich weiß gar nicht, wo ich hier bin«, erwiderte sie.
»Tatsächlich nicht?« Die kühle Stimme klang erstaunt.
»Nein, Schwester, ich …« Julia brach ab, weil ihr etwas an ihren eigenen Worten sonderbar erschien.
»Also doch. Sie sind ganz nahe dran, Frau Palmer. Ich bin Schwester Heidrun, und Sie liegen hier in der chirurgischen Klinik von Professor Kellermann.«
»Ich hatte einen Unfall?«
»Aber nicht doch. Ganz im Gegenteil! Sie haben sich einer Schönheitsoperation unterzogen.«
Allmählich, ganz allmählich kam die Erinnerung zurück. »Ich habe es also wirklich gewagt?« fragte sie ungläubige.
»Ja, das haben Sie, Frau Palmer.«
Sie hatte sich also freiwillig operieren lassen. Plötzlich überkam sie Angst. Wenn sie nun entstellt war? Sie hatte von solchen Fällen gehört und gelesen. Die Furcht setzte sich wie ein Alp auf ihre Brust, so daß sie kaum noch atmen konnte.
Es schien, als könnte Schwester Heidrun ihre Gedanken lesen. »Und es ist alles gutgegangen«, erklärte sie beruhigend. »Der Herr Professor war sehr, sehr zufrieden. Jetzt müssen Sie aber brav mithelfen, damit alles gut verheilen kann.«
Julia spürte, wie ihr ein Röhrchen in den Mund geschoben wurde.
»Nehmen Sie einen Schluck, das wird Ihnen guttun. Keine Angst, in ein paar Tagen können Sie wieder aus der Tasse trinken.«
Gehorsam saugte Julia und kam sich dabei ein wenig wie ein Baby vor. Das Getränk schmeckte ihr köstlich, obwohl sie nicht recht definieren konnte, was es war. Frisch gepreßter Apfelsinensaft? Vielleicht.
»So, jetzt ist’s genug.« Das Röhrchen wurde ihr wieder entzogen. »Jetzt sollten Sie noch ein bißchen schlaffen.«
»Aber ich bin gar nicht mehr müde.«
»Das werden Sie gleich wieder sein, Frau Palmer.«
»Wieviel Uhr ist es denn?«
»Halb zwei.«
»Und heute früh bin ich operiert worden?«
»Nein. Gestern. Aber hören Sie auf zu fragen. Sprechen ist nicht gut für Sie. Entspannen Sie sich lieber.«
»Ich werde es versuchen, Schwester.«
»Recht so. Ich bleibe bei Ihnen.«
Mit einem Seufzer streckte Julia die Glieder. Ich liege also hier in der Klinik von Professor Kellermann im schönen Allgäu. Umsorgt und behütet. Kein Grund zur Panik also.
Während die Minuten, die Stunden, die Tage vergingen, döste Julia vor sich hin. Manchmal schlief sie auch tief und fest ein. Wenn sie schließlich erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Und dann überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf: Was hatte sie hierher gebracht? Wie war sie zu dem Entschluß gekommen, sich liften zu lassen?
Wenn Professor Kellermann kam, wurden die Verbände gewechselt, ohne daß man ihr erlaubte, in den Spiegel zu sehen oder ihr Gesicht auch nur zu betasten.
»Geduld, meine Liebe!« forderte der Professor immer wieder. »Folgen Sie meinem Rat: um mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, braucht es in erster Linie Geduld. Knifflige Fragen lassen sich nicht übers Knie brechen.«
Schwester Heidrun oder eine ihrer Kolleginnen gaben ihr zu trinken, bald schon nicht mehr aus dem Röhrchen, sondern aus einer Schnabeltasse. Man führte sie zur Toilette und wusch sie mit lauwarmem Wasser von Kopf bis Fuß.
Es kam kein Besuch für sie, nicht einmal ein Anruf; sie hatte niemandem anvertraut, wohin sie sich zur »Erholung« begeben hatte. Das Radio einzustellen reizte sie nicht. Es quäkte, so fand sie, zu aufdringlich nahe an ihrem Ohr. Zudem war sie nicht in der Lage, einen Sender zu bestimmen, sondern hätte sich damit begnügen müssen, was der Leiter der Klinikzentrale für gut und richtig befand. So verziehtete sie lieber.
Julia hatte Zeit, viel Zeit. Sie konnte sich nicht erinnern, je eine solche Muße gehabt zu haben. Sie war durch ihr Leben gesaust, so jedenfalls kam es ihr vor, ohne auch nur einmal zu verschnaufen. In den letzten Jahren hatte sie sogar das Kunststück fertiggebracht, sich zu schminken, ohne sich dabei wirklich anzusehen. Sie wußte, der Anblick würde ihr nicht gefallen, und so kniff sie dabei innerlich die Augen zu.
Wann hatte es angefangen? Sie war ein so schönes Mädchen gewesen. Nein, darin täuschte sie sich nicht. Sie sah sich noch vor sich: langbeinig, braun gelockt, mit diesen tiefblauen Augen, die Robert »Veilchenaugen« genannt hatte. Ach ja, wie lange das her war!
Aber schon viel früher, als sie noch das kleine Julchen Heinkes gewesen war, hatten alle sie vergöttert: der Vater, ein einfacher Mann, der ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, und die Mutter, die stundenlang an der Nähmaschine gesessen hatte, um ihr die schicksten Modelle zu schneidern, die sie im Laden nicht erstehen konnte. Immer war sie wie ein Püppchen gekleidet gewesen. Selbst in Jeans oder Overalls sah sie adrett und hübsch aus, als ginge es nicht zum Spielplatz oder zur Schule, sondern geradewegs zum Laufsteg.
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