Lorenz war seiner Frau da nicht unähnlich, wobei er sich zumindest ab und an mit seiner Kamera in die Natur begab und drauf losknipste.
»Na, das ist ja das Blöde. Er hat mir gesagt, dass er da gar nichts empfehlen kann, weil jeder Mensch anders sei.
Ich soll mal in mich reinhören und dann mal was ausprobieren.«
»Das klingt doch eigentlich ganz gut. Machst du es?«
Lorenz war jetzt noch neugieriger geworden, was Paula sich hier vorstellen könnte.
Ihm fiel beileibe nichts auf die Schnelle ein, was er mit seiner Frau in Verbindung bringen konnte.
»Ach, ich weiß auch nicht. Ja, vielleicht. Reinhören klingt gut und ausprobieren auch. Damit mache ich sicher nichts falsch. Aber ich kann mir erst was überlegen, wenn ich mal einen ruhigen Moment habe. Vielleicht am Wochenende. Das läuft mir ja nicht weg.«
Paula hatte eigentlich keine allzu große Lust, in sich reinzuhören.
Sie wusste aber insgeheim, dass der Arzt recht hatte und sie definitiv mal eine Art von Ausgleich bräuchte.
Ihr Beruf, ihre Kinder, ihr Mann, ihre Eltern, sie alle wollten irgendetwas von ihr. Und sicher gaben sie ihr auch Vieles zurück.
Aber etwas fehlte. Sie wusste nur nicht, was das konkret war.
Ist ja nichts Akutes, ich denke mal drüber nach.
Die beiden fuhren gerade in den Wendehammer, als ein Ball von rechts auf die Straße kullerte und ein Kind hinterhersprang. Es war Rakan, der den wegrollenden Ball fokussierte und dabei alles andere auszublenden schien. Nur ein schnelles und beherztes Bremsen von Lorenz führte dazu, dass niemand Schaden nahm.
Rakan war so darauf konzentriert, den Ball einzuholen, dass er wohl nicht einmal das Quietschen der Reifen hörte. Paula hatte laut aufgeschrien und sich die Hände vor die Augen gehalten. Als sie sah, dass alles in Ordnung war, senkte sie ihre Hände wieder und schaute zu ihrem Mann.
Lorenz sprang wie von der Tarantel gestochen aus dem Auto und brüllte ihn an: »Bist du verrückt? Das hätte schieflaufen können. Ich hätte dich beinahe überfahren! Oder zumindest angefahren! Du musst deine Augen aufmachen, wenn du auf die Straße rennst. Beziehungsweise rennt man gar nicht auf eine Straße, vor allem nicht für so einen ... beschissenen Ball! Was hast du dir dabei gedacht?«
Lorenz war außer sich. Er war normalerweise sehr friedfertig und konnte niemandem etwas zuleide tun. Und auch jetzt kam seine Rage nur daher, weil er sich das Schlimmste ausgemalt hatte.
Ein Kind überfahren. Tot. Ein Kind angefahren. Bein amputiert. Dem Kind ausgewichen und mit der Beifahrerseite in den Lampenpfahl gefahren. Paula tot.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich vorgestellt, wie sein Leben und das anderer Beteiligter durch so eine Lappalie zerstört worden wäre.
Rakan, der von Lorenz Bremsmanöver nichts mitbekommen hatte, schaute irritiert zum Auto. Er verstand noch nicht alle deutschen Wörter und schon gar nicht, wenn sie sehr schnell und sehr laut gebrüllt wurden.
Was er stattdessen mitbekam, war eine erschrocken dreinblickende Beifahrerin und einen Autofahrer, der mit einem verzogenen, bösen Gesicht auf ihn einredete.
» Shu? « Er verstand nicht, welches Chaos seine unbedachte Aktion hätte anrichten können. Aber die Menge an Emotionen, die auf ihn einprasselte, machte sich schon leicht bemerkbar. Als der Mann aufhörte, zu brüllen, erkannte er zunächst ihn und dann die Frau im Auto. Es waren die beiden Nachbarn, in deren Garten er gestern nur seinen Ball holen wollte. Und wo er dann sehr unfreundlich von dem Mann – Lurens? – behandelt wurde. Seinen Ball hatte er später in der Einfahrt wiedergefunden, wahrscheinlich hatten sie ihn hinübergeworfen. Warum brüllt er mich an? War er ein böser Mann? Rakans Augen füllten sich mit Tränen, allerdings empfand er es auch gleichzeitig als ungerecht, so angebrüllt zu werden. Selbst sein Vater hatte ihn noch nie so angebrüllt und der hätte zumindest das Recht dazu gehabt. Es platzte aus ihm heraus. »Aschloch!«, rief Rakan mit gebrochener Stimme und rannte am Auto vorbei in die Einfahrt seines Hauses, wo er schließlich verschwand. Seinen Ball ließ er im Wendehammer liegen. Lorenz drehte sich in Richtung Einfahrt. Dann schaute er zum Ball, blickte zurück zu Paula im Auto und machte eine fragende Geste. Schließlich schaute er noch einmal zum Nachbarhaus, bevor er zum Auto zurückging und die Fahrertür öffnete. »Was sollte das denn nun schon wieder?« Lorenz stand verdutzt da. Er hatte sich mittlerweile zwar wieder beruhigt, da glücklicherweise niemand zu Schaden gekommen war. Rakans Reaktion hatte ihn aber wieder zum Kochen gebracht. »Also dieser kleine Pimpf, ... Hast du das eben gehört, Paula? Wie er mich genannt hat? So nicht. Ich werde mir mal seinen Vater vorknöpfen, wenn ich ihn sehe.« »Lorenz, steig bitte wieder ein und lass uns daheim darüber sprechen. Ich habe es auch gehört, ja. Aber vielleicht weiß der Kleine gar nicht, was er gesagt hat? Er spricht ja wohl nicht wirklich fließend Deutsch, siehe gestern. Komm, ich möchte jetzt hier nicht im Wendehammer blöd rumstehen, wenn alle Nachbarn uns sehen können.« Lorenz schnaubte noch kurz, stieg in den Wagen und fuhr die kurze Strecke mit sehr geringer Geschwindigkeit in die Einfahrt ihres Zuhauses. Während Paula gleich im Haus verschwand, lief Lorenz noch zum Wendehammer zurück, um den Ball zu holen. Damit der Junge nicht wieder auf die Straße rennt und es am Ende sehr viel Leid gibt , dachte sich Lorenz. Rakan beobachtete hinter dem Vorhang im ersten Stock, wie Lorenz seinen Ball aufhob und mit sich mitnahm. Damit ich nicht mehr spielen kann und Freude im Leben habe , dachte er sich. Doch in der Einfahrt blieb Lorenz stehen, betrachtete den Ball und warf ihn erneut über den Zaun auf das Nachbargrundstück. Rakans Laune änderte sich schlagartig und er verstand. Dann sprach er leise: »Danke, Lurens.«
»Tut mir leid, das nächste Mal kann ich Sie so nicht mitnehmen, Gesetz ist Gesetz. Machen Sie es gut!«
» Tamam . Danke!« Ahmed verließ den Bus und bog nach links, an der Apotheke vorbei Richtung Birkenweg. In seiner linken Hand hielt er ein dickes Seilende, das andere Ende war um den Kopf einer Ziege gewickelt. Sie lief weitgehend selbstständig mit. Nur an Stellen am Gehsteig, an denen Grasbüschel wuchsen, hielt sie kurz an, um sich daran zu schaffen zu machen. Ahmed wartete dann kurz, zog leicht am Seil und ging weiter in Richtung Zuhause. Du wirst uns in mehrfacher Sicht helfen , dachte er sich und warf einen Blick auf seinen Neuerwerb. Es hatte knapp zehn Minuten gedauert, den Busfahrer von seinem Vorhaben, die Ziege im Bus zu transportieren, zu überzeugen. Am Ende hatte eine Mischung aus guter Argumentation, Tränen und fünf von der sich abzeichnenden Verspätung genervten Mitfahrern geholfen und Ahmed konnte mit seiner Ziege einsteigen. Yara wird mächtig stolz auf mich sein und Rakan freut sich sicher sehr über sie. Er wollte sie gleich an der großen Birke hinten anbinden und dann damit beginnen, den Schuppen hinten zu einem kleinen Stall umzufunktionieren. Während er lief, betrachtete er die Straße, in der seine Familie nun wohnen würde. Sehr viele Nachbarn hatten sie bislang nicht gesehen und die, die sie schon kennengelernt hatten, waren allesamt schräg drauf. Was war das für eine Aktion von der Nachbarin gegenüber? Sie hatte ein Brot vorbeigebracht und sehr neugierig in unser Haus geschaut. Und dann hat sie Yara korrigiert und mit dieser Bombengeschichte verschreckt. Hat sie das extra gemacht? Ob alle Deutschen so sind? , fragte er sich, als er am Haus von Frau Schappert vorbeiging. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich der Vorhang an einem Fenster bewegte. War es geöffnet und der Wind bewegte den Vorhang? Nein, es war geschlossen. Stand die Nachbarin etwa dahinter und beobachtete ihn? Wenn das der Fall war: Wie lange hatte sie wohl ausgeharrt und gewartet, bis ich zurückkomme? Sehr schräg. Ahmed beschleunigte seinen Schritt, überquerte die Straße und betrat seine Einfahrt durch das ungeölte, quietschende Tor. Nun denn, vergiss die Frau, es gibt Arbeit zu tun. »Es gibt Ess-en!«, rief Marta ins Treppenhaus. »Bringt bitte euer Salatbesteck mit, unseres ist noch in der Spülmaschine.« »Ist gut, Mama!«, rief Paula und machte im Treppenhaus kehrt, um das gewünschte Utensil zu holen. Mindestens einmal am Tag saß die Familie zusammen, um zu essen. Wenn es mittags nicht klappte, verlegte man das Beisammensein eben auf den Abend. Marta hatte Königsberger Klopse gemacht, die Leibspeise von allen vieren. Dazu gab es Petersilienkartoffeln und, wer mochte, Brot zum Tunken der übrigen Soße. Lorenz saß als Erster am Tisch. Unmittelbar danach folgten Sepp und Marta. Es roch köstlich. Paula kam zwei Minuten später, weil sie noch aufgehalten wurde. Sie kam gerade das Treppenhaus heruntergelaufen, als sie durch das Fenster zwei Personen erblickte: Karl stand an Frau Schapperts Gartenzaun und unterhielt sich aufgeregt mit ihr. Sie schaute immer wieder an ihm vorbei zum Haus der Kisselbachs und auch er drehte sich immer wieder dorthin um. Ihre Arme waren in die Hüften gestemmt und er hatte seine verschränkt. Ihre Gesichter sahen angestrengt und fies aus, außerdem schüttelte der eine den Kopf, wenn der andere etwas erzählte. »Na, die haben wieder Spaß am Leben, was?«, schlussfolgerte Paula später ironisch am Esstisch und schloss damit ihre Erzählung ab. Marta war die Erste, die reagierte: »Da haben sich wieder die Richtigen gefunden. Die haben bestimmt geredet. Und fiese Gerüchte in Umlauf gebracht. Das neue Opfer scheinen wohl die neuen Nachbarn sein, was?« Das Gespräch mit Frau Schappert am Morgen hatte sie sehr lange, zu lange, beschäftigt. So eine fiese Person , dachte sie sich und reichte die Schüssel mit den Kartoffeln an Sepp, der beherzt zugriff. Nachdem er sich zwei große Kartoffeln auf den Teller geladen hatte, entgegnete er: »Wobei ... ich weiß nicht, wie es euch geht, aber etwas seltsam sind sie schon, oder? Ich meine damit die neuen Nachbarn ... « »Was, wie kommst du da drauf? Hast du mit ihnen schon geredet, Papa?« Paula griff zum Schöpflöffel und fischte drei Klopse heraus, die sie Lorenz auf den Teller legte. »Geredet nicht, nein. Aber die Frau hat sehr komisch reagiert, obwohl ich nur freundlich sein wollte. Ich stand gerade in den Thujas und habe sie singen gehört. Also habe ich ihr applaudiert. Und als sie mich dann gesehen hat, war sie ganz verschreckt und ist ins Haus gerannt. Ich habe mich schon gefragt, ob sie vielleicht nicht mit anderen Männern als ihrem sprechen darf?« »Ach Sepp, jetzt fängst du auch schon an wie die Schappert. Willst du dich vielleicht zu den beiden am Zaun gesellen? Ich bringe dir dann dein Bier raus, dann kannst du auch noch deine Gerüchte in die Welt setzen. Ich habe heute früh Frau Schappert getroffen und das hat mir gereicht. Die vermutet doch hinter allem und jedem eine Bedrohung für sich und ihr Zuhause. Vielleicht hat die Nachbarin auch einfach nur gedacht, dass da ein alter Spanner rumsteht und deswegen ist sie schnell wieder ins Haus gegangen, hast du daran schon gedacht? Ich meine, wer steht denn im Gebüsch und belauscht seine Nachbarn?« »Daran hatte ich nicht gedacht, das stimmt. Aber ich sehe doch nicht wie ein Spanner aus. Und ich habe sie nicht belauscht!« »Marta, so kritisch habe ich dich ja selten erlebt.« Lorenz zerteilte seine dampfenden Klopse und fügte hinzu: »Ich weiß nicht, irgendwie habe ich auch kein gutes Gefühl bei den Nachbarn. Wir haben den Jungen nun zwei Mal gesehen und beide Male war er sehr ungehobelt. Er hat mich sogar Arschloch genannt, das ist doch unglaublich!« »Also, Lorenz ... du hast ihn aber auch mächtig angeschrien, das darfst du nicht vergessen.« Paula stimmte ihrem Mann grundsätzlich zu. Das Wegschlagen der Hand und der verbale Ausfall vorhin hatten bei ihr auch keinen guten Eindruck hinterlassen. Trotzdem wollte sie sich noch kein Urteil bilden. »Ja, klar habe ich ihn angeschrien, ich hätte ihn ja auch beinahe wegen einer Lappalie überfahren. Und auch noch ganz unverschuldet!« Lorenz umklammerte sein Messer etwas fester und malte sich wieder aus, was alles hätte passieren können. »Nun Kinder, beruhigt euch mal wieder. Mich hat es sowohl genervt, wie Karl über die Nachbarin als auch wie Frau Schappert über den Nachbarn gesprochen haben. Ohne, dass sie mehr als ein Wort mit ihnen gewechselt haben. Frau Schappert hat ihm schon einiges unterstellt, von betteln bis ausrauben war alles dabei. Sie fand es auch komisch, dass er vormittags nicht zu arbeiten scheint. Ich habe gemutmaßt, dass er vielleicht Besorgungen macht. Und siehe da, ich hatte recht: Vorhin habe ich deren quietschendes Einfahrtstor gehört und bin zum Fenster gelaufen. Da kam er gerade zurück und hatte eine Ziege dabei.« »Eine Ziege?«, riefen die drei übrigen unisono. »Ja, eine Ziege. Hört ihr wohl schlecht?« »Am Stück? War sie tot oder lebendig?« Sepp überlegte kurz, welche Antwort ihm lieber wäre. »Lebendig. Sie lief hinter ihm her, an einem Seil.« »Äh und wozu? Als Haustier?« Sepp hatte sich schon für die tote Variante entschieden, schön zart gegrillt, dazu Bauernbrot und Tomatensalat. Aber da ihm weder die tote noch die lebendige Ziege gehörte, waren ihm eigentlich beide Möglichkeiten egal. »Sepp, das weiß ich nicht. Du kannst ja rübergehen und fragen. Ich gebe dir eines meiner Kochbücher mit und du kannst ihm ein paar Gerichte empfehlen.« Schon während Marta ihren Witz aussprach, verzogen sich ihre Mundwinkel nach oben und sie musste glucksen. Auch Sepp musste grinsen und er bekam wieder das Bild von der gegrillten Ziege in den Kopf, die er sich mit dem Nachbarn teilen würde. »Sehr lustig. Schaut, das ist doch wieder seltsam. Wer kauft sich denn eine lebendige Ziege und führt sie Gassi?« Lorenz blickte ungläubig in die Runde. Ihm wäre nicht einmal ein Hund ins Haus gekommen, geschweige denn eine Ziege. «Gassi führen habe ich doch gar nicht gesagt. Also, jetzt lassen wir das ganze Thema und essen, sonst wird alles kalt. Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne uns, was du uns bescheret hast, Amen.« »Amen.« Nachdem auch Marta ihren Teller vollgeladen und zu essen begonnen hatte, stieß Lorenz seine Gabel in den zerteilten Klops, hielt ihn gegen das Licht und blickte geheimnisvoll in die Runde. »Marta, was für ein Fleisch hast du eigentlich heute verwendet?« Alle vier prusteten los und damit war das Gespräch über die neuen Nachbarn beendet.
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