Als die kommunistischen Chinesen im Oktober 1950 Osttibet angriffen und anschließend das restliche Königreich infiltrierten und übernahmen, waren die Tibeter nicht auf der Hut. Unfähig oder nicht willens eine gemeinsame Front gegen den Angreifer zu errichten, blieb die tibetische Regierung auffallend passiv. Die einzig kampfbereiten - die Khampas - brauchten Waffen, die ihnen die herrschenden Kräfte nicht zu Verfügung stellten. Statt dessen wurden die Waffenlager in Chamdo, im Osten des Landes, auf Befehl des Regierungsbeamten und Verräters Ngabö in die Luft gejagt. Ohne den sich schnell nähernden chinesischen Truppen Widerstand entgegenzusetzen, sorgte Ngabö dafür, daß die Widerstandskämpfer im Osten ohne Waffen blieben. Von Lhasa im Stich gelassen, seiner militärischen Führung beraubt und ohne eine fähige Kampftruppe, fiel Kham in nur wenigen Wochen den Kommunisten in die Hände.
Die tibetische Regierung wiederholte 1951 ihre katastrophale Darbietung aus dem Jahre 1950 und unterzeichnete im Mai unter der Führung des sechzehnjährigen 14. Dalai Lama den umstrittenen Siebzehn-Punkte-Plan, in dem Tibet formal die chinesische Oberhoheit akzeptierte, wenn dem Land auch eine lokale Autonomie zugestanden wurde. Als sich 1959 die Bevölkerung von Lhasa endlich gegen die chinesische Armee erhob, konnte sie mit ihrem Kampf nichts mehr von dem rückgängig machen, was die Politiker bereits auf dem Papier verschenkt hatten. Der verzweifelte Aufstand wurde brutal niedergeschlagen und Tibet verschwand von der politischen Weltkarte. Die Kommunisten hatten jetzt freie Hand, um den Völkermord an der tibetischen Nation zu beginnen. Der junge Dalai Lama und seine engsten Begleiter flohen im letzten Moment, als die Chinesen die Hauptstadt besetzten. Seine Flucht setzte einen Massenexodus von Mönchen und Lamas über den Himalaya in Gang. Jahre zuvor hatte schon der 16. Karmapa, mit mehr Voraussicht, seine Leute auf die Flucht vorbereitet und erreichte wie geplant mit seinen vier engsten Schülern und anderen Tulkus das Königreich Bhutan im Ost-Himalaya.
Nachdem sie in Indien angekommen waren, befanden sich die Vertreter der vier Schulen plötzlich auf der gleichen Stufe. Die Macht der Gelugpas und die Vorherrschaft der zentraltibetischen Regierung hatten sich über Nacht verflüchtigt. Alte Fehden verblaßten im Vergleich zum Ausmaß der gegenwärtigen Katastrophe. Die vom Glück begünstigten Lamas, denen es gelungen war, die schwere Prüfung der chinesischen Invasion und die Qual einer Himalaya-Überquerung zu Fuß im Winter zu überleben, hatten nun die große Aufgabe, das, was sie von der Zerstörung Tibets hinübergerettet hatten, im Exil wieder aufzubauen. Beeinflußt durch die Freundschaft mit dem 16. Karmapa und weil er einsah, daß Zusammenarbeit nun lebenswichtig war, beschloß der 14. Dalai Lama den zweihundert Jahre alten Bann aufzuheben. Nach Jahrhunderten der Abwesenheit wurde Shamar Tulku wieder offiziell anerkannt, diesmal auf indischem Boden. Für einen Moment sah es so aus, als ob das Ausmaß des Desasters und der Status der verzweifelten Flüchtlinge in einem verarmten Land die Tibeter dazu zwingen würde, Vernunft anzunehmen und zusammenzuarbeiten.
Wie sich später jedoch herausstellen sollte, war nicht einmal der totale Zusammenbruch des Landes Unglück genug, um die kollektive Tendenz der Nation zum Streit zu beugen. Kaum hatte sich der Staub nach der Katastrophe wieder gelegt, wurden die Fehden der alten Tage in ihrer alten Inbrunst wieder aufgenommen. Das alte Lhasa-Regime, verborgen hinter seinem neuen Namen als „Tibetische Exilregierung“ und von seinem neuen Sitz in Dharamsala im West-Himalaya aus regierend, führte die alte Tagesordnung der Feindschaft gegen die anderen buddhistischen Schulen weiter. Die Mitglieder dieser illustren Gesellschaft nahmen mit dem gleichen fehlgeleiteten Enthusiasmus die Vorurteile, Rivalitäten und Kämpfe der Vergangenheit wieder auf. Insbesondere die Khampas galten als ernsthafte Bedrohung des neuen Bestrebens der Gelugpa-Administration: alle Exiltibeter zu vertreten und zu kontrollieren.
Gyalo Döndrup, der unverfrorene Bruder des Dalai Lama, beschloß, daß die beste Antwort auf Maos Invasion und die Zerstörung ihres Landes sei, Tibet und die tibetische Exil-Politik an die neuen kommunistischen Gegebenheiten anzupassen. Dreist schlug er vor, die alten buddhistischen Schulen und die ganze opulente religiöse Show abzuschaffen, und so die hohen Lamas auf den Boden der Realität zu bringen. „Keine Throne mehr, keine Rituale mehr und auch kein Goldbrokat“ soll er geäußert haben. Seine Worte pflanzten Ängste in die Herzen der Lamas. Als weitere Einzelheiten des ausgearbeiteten Planes bekannt wurden, war klar, daß ein Coup gegen drei der vier Schulen ausgeheckt wurde. Die neue religiöse Organisation, die die traditionellen Linien ablösen sollte, sollte von der Gelug-Hierarchie kontrolliert werden. Die besorgten Lamas eilten zu Karmapa und baten ihn um Hilfe.
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Nachdem Karmapa von der Herrscherfamilie eingeladen worden war, sich in dem Königreich Sikkim im Ost-Himalaya niederzulassen, gründete er 1961 das Kloster Rumtek. Es wurde bald zu einem wichtigen Studienzentrum und nahm eine zu Dharamsala gleichwertige Stellung ein. Seine zwei engsten Schüler - der wieder eingesetzte Künzig Shamarpa und der Tai Situ - sowie der frisch eingebundene Jamgon Kongtrul und Goshir Gyaltsab wurden unter seiner direkten Führung in dem neuen Kloster und Institut ausgebildet.
Obwohl sich Karmapa mit Bestimmtheit von tibetischer Politik fernhielt, zählte seine Stimme, was die Angelegenheiten dieser Region betrafen. Er wurde von verschiedenen Nationen des Himalaya hoch verehrt und für die Khampas war sein Wort Gesetz. Die kriegerischen Osttibeter wie auch eine Anzahl von Lamas, die unter den Druck der Exilregierung geraten waren, suchten an seiner Seite Beistand und Unterstützung. Die neueste Initiative Dharamsalas, alle Schulen in einer Organisation aufgehen zu lassen, bedrohte die Schulen in ihrer Selbständigkeit. Wenn dieser Schritt durchgeführt worden wäre, so hätte dies das Ende vieler einzigartiger buddhistischer Praktiken bedeutet, die jede Linie als ihre Besonderheit über Jahrhunderte bewahrt hatte. Da sie nicht das geringste Interesse daran hatten, von dem großen Bruder verschluckt zu werden, gründeten dreizehn große tibetische Siedlungen - überwiegend Flüchtlinge aus Kham - eine politische Allianz und wählten Karmapa zu ihrem spirituellen Oberhaupt. Ein mächtiger und oppositioneller Gegenpol zum Dalai Lama und der offiziellen Linie von Dharamsala war entstanden. Die neue Koalition wehrte sich erfolgreich gegen die Idee, die religiöse Vielfalt Tibets abzuschaffen, und schließlich mußte der irregeleitete Plan aufgegeben werden. Die Regierung aber konnte Karmapas kompromißlose Haltung in dieser Auseinandersetzung ebensowenig verzeihen, wie seine Mißachtung der Autorität des Dalai Lamas und so wurden die Kagyüs zur Zielscheibe geschmackloser Angriffe. Als 1976 Gungthang Tsultrim, der politische Führer der Allianz, ermordet wurde und sein Attentäter gestand, auf Anweisung der tibetischen Exilregierung gehandelt zu haben, lebten sich Rumtek und Dharamsala noch weiter auseinander. Die anfängliche Freundschaft zwischen dem Dalai Lama und Karmapa wurde unter den schmerzlichen Tatsachen begraben.
Angesichts Karmapas unabhängiger Stellung begannen Minister der tibetischen Verwaltung die Richtungsänderung der Politik des Dalai Lama gegenüber Shamarpa zu bedauern. Obwohl die Aufhebung des Bannes in hohem Maße nur eine leere Geste war - weder der Dalai Lama noch seine Regierung konnten in Indien Recht sprechen und Shamarpa brauchte nicht die Erlaubnis des tibetischen Führers, um im Ausland öffentlich auftreten zu können - führte die Entscheidung zu einem Aufschrei der Entrüstung. Über die Jahrhunderte hinweg waren sowohl Karmapa als auch Shamarpa in Regierungskreisen unbeliebt gewesen und die Vorgehensweise Lhasas vor zweihundert Jahren war als Sieg über die meuternden Kagyüs gefeiert worden. Karmapas große Bekanntheit und das plötzliche Wiederauftreten seines Hauptschülers wurde zur Bedrohung der politischen Ziele der Gelugs erklärt. Das Oberhaupt der Kagyüs und sein Hauptschüler wurden zu bitteren Feinden Dharamsalas.
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