Im Mai 1988 bestätigte der Stab von Rumtek, daß alle im Extrabrief erwähnten Rituale vollzogen worden waren und die Hindernisse, die der Testamentseröffnung im Wege standen, somit beseitigt wären. (*FN: Numerierung der im Anhang abgedruckten Dokumente.) (*DOK:1) Während die jubelnden Schüler ihre Errungenschaft feierten, verschleppten die Linienhalter weiterhin die ganze Sache und die langerwartete Ankündigung war nirgendwo in Sicht. Mit größter Entschlossenheit versuchten sie aus irgendeinem seltsamen Grund, das ganze Thema zu vermeiden.
Mit derselben Entschlossenheit schienen sie auch sich gegenseitig gemieden zu haben. Nach ihrer inspirierenden Verlautbarung im Jahre 1986 gelang es den vier Linienhaltern, sich offiziell nur dreimal im Lauf der nächsten vier Jahre zu treffen. Ihre Treffen waren nicht nur selten, sondern auch größtenteils erfolglos. Diese Beratungen, die manchmal in Fünf-Sterne-Hotels stattfanden, schienen nicht bis zum Kern des Problems vorzustoßen. Das Treffen von Neu Delhi im März 1990 war typisch. Obwohl eine einstimmige Mitteilung an den Karmapa Trust veröffentlicht wurde, wagten die Linienhalter nicht mehr als eine historische Beurteilung der Aussagen, die die Inkarnationen Karmapas bezeugten. Sowohl eine Sammlung schriftlicher Anweisungen, als auch die Taten einer Reinkarnation waren zwei notwendige Bestandteile, um die Authentizität des Prozesses zu gewährleisten. Es war zweifelsohne eine ausgereifte Beurteilung, die aber verdächtigerweise mit keinem Wort den Testamentsbrief erwähnte, der, wie man sich gut erinnern konnte, von den Rinpoches im Jahre 1986 gefunden worden war und dazu geführt hatte, daß die Rituale vollendet wurden.
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Von 1990 an wurde der Druck, Karmapa zu präsentieren immer stärker und die Forderungen wurden immer unverschämter, während die Begegnungen der vier Linienhalter sogar noch seltener wurden. Gerüchte kursierten und eine wilde Theorie jagte die andere. Plötzlich erschien eine stattliche Anzahl schillernder Gruppen in der politischen Szene des Ostens. Sie alle wiederholten die gleiche, wohlbekannte Melodie: sofortige Anerkennung des 17. Karmapa. Neu war diesmal eine Liste von Anschuldigungen, die sich vor allem gegen den Generalsekretär, aber auch gegen Shamarpa richtete. Sie wurden bezichtigt, absichtlich den Prozeß der Anerkennung zu behindern. Topgala, einer der finanziellen Hauptunterstützer Rumteks, würde das Kloster um dessen Vermögen bringen und selber große Ambitionen hegen. In einer Verschwörung mit Shamarpa würde er einen bhutanesischen Prinzen als 17. Karmapa inthronisieren. Die Tiraden gegen die beiden schienen wohlüberlegt und eine Reihe von Veröffentlichungen und Appellen wurden an Klöster und Politiker im Osten verschickt. Mit jeder folgenden Welle wurden die zügellosen Beschimpfungen immer aggressiver, bis sich Shamarpa und Topgala unter völliger Belagerung und dauerndem Beschuß von aufgebrachten „Verteidigern“ von Karmapas Erbe befanden.
Charakteristischerweise hatten sich die „erbosten Bürger Tibets“ viel Lob für eine herausragende Persönlichkeit bewahrt: Situpa - der einzige unter den Linienhaltern, der schnelles Handeln befürwortete. Ein klares Muster in dieser hinterhältigen Kampagne wurde sichtbar. Und in diesem Muster unterschied sich Situpa, der zum Handeln bereit war und vorsätzlich agierte, von nahezu jedem anderen. Waren all die Forderungen und Anklagen nur ein spontaner, unverantwortlicher Ausbruch politisch erwachter Tibeter? Oder zog jemand heimlich im Hintergrund die Fäden? Dies war eine Frage, die niemand öffentlich zu stellen wagte. Jedenfalls nicht zu dieser Zeit.
Während die tibetischen Gerüchteküche brodelte, wurde klar, daß die vier Rinpoches wenig taten, um diese Gerüchte zu zerstreuen. Wenn man die Briefe liest, die sie sich in jenen Tagen schrieben, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Stolz die Oberhand über ihre Urteilskraft behielt. Die meisten Treffen fielen aus, weil sich die Eminenzen weder über Zeit noch Ort der Zusammenkünfte einigen konnten, und Situpa und Shamarpa unter keinen Umständen bereit waren, die Vorschläge des jeweils anderen zu akzeptieren. Situpa machte sich nicht die Mühe, zu einem Treffen zu erscheinen, das von Generalsekretär Topgala einberufen worden war, während Shamarpa, in typisch königlicher Manier, einfach seinen Widersacher ignorierte. Tatsache war, daß sich die Linie an ihrer Spitze gespalten hatte.
Der Versuch, Karmapas Herz nach der Verbrennungszeremonie an sich zu nehmen, die unglückselige Absicht, Shamarpa vor Gericht zu zerren und die jüngste Verleumdungskampagne waren alles Bestandteile eines bewußten Versuches, die Position des obersten Linienhalters zu schwächen. Wer war für solch ein Komplott verantwortlich? Künftige Ereignisse sollten auf die wichtigsten Drahtzieher hinweisen und das ganze Ausmaß der Verschwörung enthüllen. Zu dieser Zeit jedenfalls sah alles bloß nach einem Streit zwischen sturen Rinpoches aus. Shamarpa, mit jedem Zoll ein Gentleman, hatte keine Ahnung, daß der Boden unter seinen Füßen bereits brannte und hinter den Lügen und Streitereien eine viel schlimmere Intrige ausgeheckt wurde.
Die Empörung und provozierte Unruhe beschränkten sich bis dahin auf den Osten. Mit Ausnahme von Samye Ling in Schottland und Woodstock bei New York war das Vorgehen gegen den höchsten Linienhalter und den Generalsekretär hauptsächlich ein tibetisches Phänomen. Während die Leiter dieser beiden Zentren eine plötzliche und unerwartete Abneigung gegen Shamarpa und Topgala entwickelt hatten und pflichtbewußt das übelste Gerede verbreiteten, hatten die Leute in den von Lama Ole gegründeten Zentren wenig Ahnung und noch viel weniger Interesse an dieser Politik aus Asien. Hier standen die Praxis und der Nutzen in der modernen Welt auf der Tagesordnung. Die wenigen Gerüchte, die bis nach Europa gelangten, wurden für exotische Geschichten gehalten - würzige Zutaten in einem sonst perfekten Mahl. Alle Rinpoches galten noch immer als unfehlbar und heilig und das Hin und Her, das sich hinter den Kulissen abspielte, war den westlichen Schülern nicht bekannt.
Getreu Karmapas Worten hielten Hannah und Ole die Gruppen unter ihrer Leitung von Politik fern. Lama Ole lehnte das Gerede über eine Spaltung an der Spitze der Linie ab und betonte, daß sich Karmapa in einer traditionellen Weise manifestieren würde, wenn die Zeit reif dafür sei. Immer wieder gab er den Linienhaltern den Rat: „Es darf keine öffentliche Ankündigung geben, bevor das Kind sicher in Rumtek ist. Wir können nicht arbeiten, wenn wir den Atem der Chinesen im Nacken spüren.“ Falls sich Karmapa dazu entschlossen hätte, in Tibet wiedergeboren zu werden, schmiedete Ole einen Plan, um ihn so schnell wie möglich außerhalb Chinas Reichweite nach Indien zu bringen. Die Jahre des Schmuggelns über so manche Grenze waren also nicht vergebens gewesen und Oles Erfahrung auf diesem Gebiet konnte der Linie vielleicht bald dienlich sein. Hannah und Ole eröffneten Shamarpa ihren Plan und teilten ihre Sorge über eine verfrühte Ankündigung mit Jamgön Kongtrul und Gyaltsab Rinpoche. Alle drei Linienhalter verstanden die Wichtigkeit eines sicheren Resultats und waren sich darin einig, daß der erste Schritt sei, Karmapa in Freiheit zu bringen, außerhalb eines chinesisch kontrollierten Tibets.
Während Ole Gerüchte zurückwies und Gemüter besänftigte, kämpfte er in Wahrheit einen harten Kampf für die Einheit der Linie. Nach fast zwanzigjähriger Arbeit mit Tibetern hatte er wenig Illusionen über einige der „eher reizenden Züge“ im Charakter der Himalaya-Nation. Alle Lamas, die mit dem heimlichen Vorhaben in Europa ankamen, ihre eigene Organisation auf Kosten von Karmapas Zentren aufzubauen, wurden aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Die wenigen, die dennoch beharrlich blieben, landeten am Rande der ständig wachsenden europäischen Buddhisten-Szene oder bekamen Unterstützung, ihr Glück in Amerika zu versuchen. Und so blieb das Kagyü-Gebäude in Europa gefestigt und unter einem Dach vereint. Mit Ausnahme Frankreichs und Englands, Länder, in denen Lama Ole keine Verantwortung hatte, wurden aus besuchenden Mönchen und Lamas keine ansässigen Rinpoches.
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