Noch heute erinnert sich Shamarpa daran, mit welch ungewöhnlicher Leidenschaft die anderen beiden Linienhalter Paljurs Worte aufnahmen. Ohne zu zögern, baten sie Kalu Rinpoche, die wertvolle Rinchen Terdzö-Einweihung zu geben und, als dieser einwilligte, versetzten sie die örtliche Kagyü-Welt in energische Vorbereitungen. Shamarpa selbst stand dieser Idee gleichgültig gegenüber. Einerseits war er von große religiöse Zeremonien nicht besonders begeistert und versuchte, seine Pflichten auf eine eher zwanglose Weise zu erfüllen. Andererseits konnte er den Gedanken nicht loswerden, daß die Motivation seiner Kollegen hinter einer Bitte dieser Art doch eher zweifelhaft war. Eine Weigerung an der Feier teilzunehmen, wäre jedoch eine Beleidigung des alten Kalu gewesen, und so schloß er sich den anderen widerwillig an und bereitete sich auf sechs Monate langatmiger Zeremonien vor.
Shamarpas eher lauwarme Billigung der Bemühungen seiner beiden Kollegen blieb nicht unbemerkt. Auch begannen die Jahre gehässigen Geredes, das aus den Kreisen um die hohen Lamas kam, ihre unerwünschten Früchte zu tragen. Es schien, als ob die drei Rinpoches letztendlich doch dem negativen Gerede Gehör geschenkt hätten und nun selbst über die Idee nachdachten, Shamarpa von der Spitze der neu gegründeten Gruppenherrschaft zu entfernen. Zufällig mußten sie gar nicht lange planen.
Beweise über einen schweren Betrug, in den Shamarpa angeblich verwickelt war, fielen ihnen unerwartet in die Hände. Es war eine einzigartige Gelegenheit, die Linie von einen Manipulator zu befreien, der nach zweihundertjähriger Verbannung wieder aufgetaucht war. Die drei Linienhalter rechneten wohl damit, daß sie Shamarpa damit bald loswerden würden.
Lea Terhune - ehemalige Buchhalterin in Rumtek und heutige Ratgeberin und rechte Hand Situ Rinpoches im Westen - war vom neuen Generalsekretär wegen ihrer Herumschnüffelei von Karmapas Hauptsitz entlassen worden. Während sie noch in Rumtek war, hatte sie einen großen Teil ihrer Zeit damit verbracht, sich durch die Archive des Klosters zu pflügen. Ihre Sorgfalt schien sich bezahlt gemacht zu haben, als sie dachte, es wäre ihr gelungen, eine Reihe von Dokumenten auszugraben, die ein Fehlverhalten Shamarpas bewiesen. Begierig, Situ Rinpoche, ihrem neuen Wohltäter, einen Gefallen zu erweisen und immer noch sauer wegen ihres unrühmlichen Abgangs von Rumtek, verkündete Frau Terhune, daß Karmapas Landbesitz für das Institut in New Delhi das Ziel von Shamarpas unstillbarer Gier geworden sei. Der oberste Linienhalter, behauptete sie, sei hinter Karmapas Besitz her. Situ Rinpoche wurde ein Stoß von Dokumenten angeboten, die angeblich beweisen sollten, daß Shamar Tulku den Besitz von Karmapa auf seinen eigenen Namen übertragen lassen wollte.
Was eigentlich alle Alarmglocken hätte klingeln lassen und Situ Rinpoche zu einer fairen Untersuchung der phantastischen Behauptung hätte zwingen müssen, wurde zu der langgesuchten Ausrede, um seinem Rivalen hinterrücks einen Schlag zu versetzen. Nachdem Situpa mit seinen neu gewonnenen “Schuldbeweisen” die Runde gemacht hatte, verkündeten die drei Eminenzen - Situ Rinpoche, Gyaltsab Rinpoche und Jamgön Kongtrul Rinpoche - anmutig ihr Urteil, ohne den Fall näher untersucht zu haben. Sie waren in der Sache nicht die kleinste Spur tiefer gegangen und beschlossen einfach, Shamarpa vor Gericht zu bringen.
Und als sich nun die Lamas und ihre Schüler in dem regnerischen Dorf Sonada im Ost-Himalaya versammelten, um die zweitausend Einweihungen zu erhalten, machten sich die drei edlen Linienhalter daran, ein Glanzstück eigener Machart abzuliefern. An einem nebeligen Morgen, ungefähr bei der Hälfte der Einweihungen angelangt, erhielt Shamarpa einen überraschenden Brief von einigen Rechtsanwälten, die die drei Linienhalter vertraten. In feierlichem Ton überbrachten die Anwälte ihre harte Nachricht: Shamarpa sollte sich auf eine Auseinandersetzung vor Gericht gefaßt machen. Das Unglaubliche geschah - drei von Karmapas Herzenssöhnen beabsichtigten, ihren ältesten Kollegen öffentlich des Diebstahls von Karmapas Eigentum zu beschuldigen.
Der Schlag kam genauso hart wie unerwartet. Shamarpa konnte beim besten Willen nicht begreifen, daß sich die Linienhalter, statt die Behauptung zu untersuchen, dafür entschieden, lieber hinter seinem Rücken herumzuschnüffeln und ihn des Diebstahls bezichtigten. Indem sie das Unrecht noch durch eine Beleidigung steigerten, hatten die Eminenzen auch noch vor, ihren Coup auszuweiten. Shamarpa fand heraus, daß sie sich mit einer entscheidenden Frage an Kalu Rinpoche gewandt hatten. Am Ende der Zeremonie sollte der bedeutende Lama die vier Tulkus öffentlich darum bitten, den zukünftigen 17. Karmapa nach Tsurphu in das besetzte Tibet anstatt nach Rumtek, seinem neuen Hauptsitz, zu schicken. Es wurde erklärt, daß der gelehrte Thrangu Rinpoche und seine Ratgeber dringend, zum Wohl des alten Klosters, um diese Lösung bitten würden. Den nächsten Karmapa in einem chinesisch kontrolliertem Tibet einzusperren, klang nach einem merkwürdigen Schachzug mit unklaren Vorteilen, und noch heute denkt Shamarpa nur mit Unbehagen an die Treulosigkeit dieses Plans. Es traf ihn hart, daß die ganze Idee - hinter dem wohlwollenden Wunsch versteckt, Tsurphu wieder aufzubauen - nichts anderes war als ein Schachzug, um die Kontrolle über die Karma Kagyü Schule zu erlangen. Wenn es ihnen erst einmal gelungen war, Karmapa dem Zugriff der Kommunisten zu überlassen, könnten die mächtigen Lamas an der Spitze bleiben und machen, was sie wollten. Falls Kalu Rinpoche nach der Einweihung unerwartet mit diesem sonderbaren Wunsch aufgetaucht wäre, hätte Shamarpa seiner Bitte zustimmen müssen. Nachdem er die wertvollen Einweihungen von dem alten Meister erhalten hatte, ließ ihm die tibetische Etikette keine andere Wahl, als den Wunsch seines Lehrers zu erfüllen, egal wie absurd dieser auch war.
Angewidert von solchen Intrigen und weil er eine Kraftprobe während den Zeremonien vermeiden wollte, und auch die Aussicht vor Augen, daß der 17. Karmapa ein Bürger Rotchinas werden könnte, beschloß Shamarpa, Sonada zu verlassen. Nachdem er sich bei dem alten Kalu Rinpoche entschuldigt hatte, traf er in Delhi ein, um die ersten Schritte beim Bau des Karmapa Institutes zu überwachen. In Sonada aber blieb sein Sitz für die letzten drei Monate der Einweihungen auffallend leer.
Überall anders hätte das nur gesellschaftliche Empörung ausgelöst, aber für die Tibeter kam die plötzliche Abreise des obersten Linienhalters einem Erdbeben gleich. Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, wurde eilig Beru Khyentse Rinpoche, ein weiterer bedeutender Kagyü Lama, als Ersatz herbeigebracht. Shamarpas Feinde benutzten seine Abreise sofort als ein weiteres Beispiel seiner Arroganz und hochmütigen Art. Als sich ihr Plan, den nächsten Karmapa in Tibet einzusetzen, in Luft auflöste, müssen die drei Tulkus zu der Überzeugung gelangt sein, daß Shamarpa ein gerissener Spieler sei - seine plötzliche Abreise von Sonada sprach dafür. Jetzt gab es kaum Zweifel, daß er sich nach Delhi zurückzog, um sich endgültig in den Besitz von Karmapas Land zu bringen.
Trotz ihrer Behauptung, sie hätten einen gewitzten Dieb auf frischer Tat ertappt, bekamen die drei Linienhalter ihren Auftritt vor Gericht nicht. Rechtsanwälte, vom Generalsekretär engagiert, wiesen die Absurdität der Beschuldigung nach. Das umstrittene Stück Land war dem 16. Karmapa von der damaligen indischen Premierministerin Indira Gandhi geschenkt worden. Aus verschiedenen Gründen - politischen und anderen - hatte die indische Regierung beschlossen, das Land für 99 Jahre zu verpachten. Um dies deutlich zu machen, wurde jährlich eine symbolische Gebühr von einer Rupie bezahlt. Das bedeutet, daß der wirkliche Eigentümer des Grundstückes die indische Regierung war und nicht Karmapa. Damit war die ganze Anschuldigung, man hätte Seiner Heiligkeit das Land weggenommen und es jemandem anderen übertragen, hinfällig.
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