In der Zwischenzeit wurde Topgalas Beharren, die Besitztümer Seiner Heiligkeit nach den neuen Richtlinien zu verwalten, zur Ketzerei erklärt. Auch sein standhaftes Eintreten gegen die übliche Praxis, Tulku-Titel gegen politische Loyalität einzutauschen, brachte ihm seitens der herrschenden Kräfte in Sikkim nur wenig Sympathie. Auslöser war seine Weigerung, den neuen Gyaton Tulku in Rumtek aufzunehmen. Der alte Gyaton war wegen seines erbitterten Widerstands gegen Karmapas Anwesenheit in Sikkim berüchtigt gewesen. Solches Benehmen war gleichermaßen unverständlich wie undankbar, nicht zuletzt, weil Karmapa selbst Gyaton 1954 zu einem bequemen Posten in Gangtok - der Hauptstadt Sikkims - verholfen hatte. Als er dem Tod näher kam, mußte der alte Lama wohl erkannt haben, daß er sich in seinem Leben schwer geirrt hatte, und so erklärte er, bevor er 1969 starb, der Letzte der Gyatons zu sein. In Zukunft würde es keine Gyaton-Inkarnationen mehr geben. Einige Zeit nach seinem Tod traten Gyatons Diener mit der Bitte an Karmapa heran, er möge schauen, ob ihr Meister nicht doch vielleicht irgendwo wiedergeboren worden sei. Karmapas Antwort war eindeutig: „Gyaton Tulku ist nicht wiedergeboren. Es gibt niemanden zu erkennen.” 15 Jahre später, im Jahre 1983, lieferte Situ Rinpoche seinen Beitrag zur Geschichte der Gyatons. Ohne irgendeine Ankündigung und ungeachtet der Zeit, die vergangen war, stellte er auf einmal den neuen Gyaton der sikkimesischen Öffentlichkeit vor. Der junge Tulku war zufällig ein Abkömmling der Martangs, einer bekannten örtlichen Familie, die bis zu diesem Zeitpunkt starke Unterstützer des 16. Karmapa gewesen waren.
Da er kein Mann der faulen Kompromisse war, wollte Topga Yulgyal nicht in etwas hineingezogen werden, was nach Betrug roch und so blieben die Türen Rumteks für diese zweifelhafte Inkarnation verschlossen. Tief getroffen wandten sich die mächtigen Martangs von Karmapas Hauptsitz ab und verwandelten sich von überzeugten Fürsprechern zu grollenden Feinden Rumteks. Tai Situ wurde der neue Lama der Wahl. Unglücklicherweise verminderte sich mit der Zeit weder der Groll der Familie gegen Rumtek noch die leidenschaftliche Verehrung Situ Rinpoches. In den folgenden Jahren versuchten die Martangs, wenn auch erfolglos, sich in die Angelegenheiten Rumteks einzumischen und der Kagyü-Hierarchie ihren Tulku-Sohn und Emporkömmling aufzuzwingen. Im Jahre 1993, als Krönung ihrer zehn Jahre dauernden Opposition gegen Karmapas Sitz, waren sie Situ Rinpoche behilflich, Rumtek zu übernehmen. Der alte Groll und die Gefälligkeiten durch das Hintertürchen waren nicht in Vergessenheit geraten.
Bereits 1983 hatten andere konservative Kagyü-Clans, die unter keinen Umständen bereit waren, zugunsten moderner Werte wie Transparenz und Verantwortung auf ihre Privilegien zu verzichten, beschlossen, gegen den Generalsekretär vorzugehen. Deswegen wurde der neue Leiter Rumteks genau bei den Leuten äußerst unpopulär, die am meisten von den alten, undurchsichtigen Vorgangsweisen profitiert hatten.
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Topga Rinpoche wurde von allen Seiten bedrängt und mußte in einer feindseligen Umgebung agieren, er sollte aber bald einen verläßlichen Verbündeten finden.
Beim großen Kagyü-Treffen nach Karmapas Verbrennung im Jahre 1981 schlug der alte Generalsekretär vor, daß die zwei bedeutendsten Schüler Karmapas, Künzig Shamarpa und Tai Situpa, sowie Jamgön Kongtrul und Goshir Gyaltsab, während Karmapas Abwesenheit zusammen an der Spitze der Linie stehen sollten. Jeder sollte für eine dreijährige Periode die Verantwortung übernehmen und Shamarpa sollte der erste sein. Die vier Linienhalter - wie man sie mittlerweile allgemein nannte - wurden ebenfalls gemeinsam mit der Aufgabe betraut, die 17. Inkarnation Karmapas aufzufinden. Vom historischen Standpunkt aus betrachtet war dieser Plan eine völlige Neuheit. Eine Gruppenherrschaft hatte es noch nie in der Kagyü-Tradition gegeben. Genauso neu und ungewöhnlich war, daß eine vierköpfige Gruppe damit beauftragt wurden, sich um die Anerkennung des 17. Karmapa zu kümmern. Wie auch immer, die Rinpoches akzeptierten den Vorschlag.
Es entstand jedoch der Eindruck, daß dieses Abkommen nicht den Ehrgeiz von allen befriedigte. Shamarpas wiedererlangte Bekanntheit war geradewegs eine Herausforderung der Personen um Situ und Gyaltsab Rinpoche, die nicht im mindesten gewillt waren, ihre Macht mit einem “Neuling” zu teilen. Seit Karmapas Tod hatten aufgebrachte Machtsuchende immer wieder versucht, dem obersten Linienhalter den Teppich unter den Füßen wegzuziehen. Der krampfhafte Versuch, Karmapas Herz von Rumtek zu entfernen, war nur das erste Beispiel einer Reihe von Versuchen, Shamarpas Position zu untergraben.
Im Sommer 1983 willigte Kalu Rinpoche ein, die Rinchen-Terdzö-Einweihung, eine Übertragung der höchsten Belehrungen Guru Rinpoches (*FN: Indischer Meister, der den Buddhismus nach Tibet brachte), zu geben. Einweihungen dienten als eine einzigartige Methode, um die Kontinuität der Belehrungen in Tibet zu bewahren. Es ist eine Zeremonie, in der der Schüler mit einem bestimmten Buddha-Aspekt vertraut gemacht wird. Ein verwirklichter Meister gab sie an strebsame Schüler weiter, die dann zu Haltern dieser Praxis wurden und somit die Möglichkeit hatten, sie eines Tages voll zu entwickeln und sie an andere weiterzugeben. Das soll aber nicht heißen, daß die Massen, die einen Klosterhof bevölkerten um eine Einweihung zu erhalten, alle ernsthafte Praktizierende waren, die nur darauf warteten, ein spirituelles Ziel zu verwirklichen. Der allgemeine Tibeter kämpfte zwar am Ende jeder Zeremonie hart um einen Segen des Lamas, weiter reichte seine religiöse Begeisterung bei solchen Anlässen aber nicht.
Da in den alten Tagen einige sehr beliebte Einweihungen leicht die Menge von mehreren tausend Menschen anziehen konnten, war es nicht ungewöhnlich, daß ein Kloster seinen Hauptlama dazu ermutigte, die heiß begehrte Einweihung zu erhalten, um sie dann später selbst zu vollziehen. Immerhin war schon ein Heer von ein paar hundert Pilgern eine gute Einnahmequelle für ein Kloster. Solche praktischen Schlußfolgerungen gingen nicht völlig verloren, als sich die Tibeter auf indischem Boden niederließen. Das Leben der Flüchtlinge brachte neue, unbekannte Plagen mit sich und oft verließ sich eine Gruppe verzweifelter Mönche, versetzt in eine feindliche Umgebung, einzig und allein auf das spirituellen Können ihres Meister um zu überleben.
1983, fast 25 Jahre nach ihrer Flucht aus Tibet, war das bloße Überleben für die meisten Tibeter kein Thema mehr. Nachdem kurz zuvor reiche Geldgeber aus dem chinesischen Südostasien die Szene betreten hatten, witterten die hohen Rinpoches und ihr Troß plötzlich großen Wohlstand. Als dann die reichen chinesischen Anhänger eine Vorliebe für kunstvolle Einweihungen zeigten, war es nicht verwunderlich, daß eine Reihe von Lamas und ihre einfallsreichen Helfer ihren Weg verließen, um solche Neigungen zu befriedigen. Eine Einweihung tauchte wieder als eine heiße Ware auf, die Einfluß kaufen und Wohlstand bringen konnte.
Entschlossen, die Augen der jungen Tulkus für diese praktische Realität zu öffnen, rief Lama Paljur, der aus Palpung in Osttibet stammte, Shamar, Jamgön und Gyaltsab Rinpoche zu sich und gab ihnen eine Kostprobe dessen, was er unter traditioneller Guru-Weisheit verstand. “Ihr solltet an die Zukunft denken“, begann er gönnerhaft zu den Rinpoches. “Bald werdet ihr Geldmittel brauchen, um eure Klöster zu unterhalten“, führte er vernünftig aus. “Ihr solltet um die beliebten Einweihungen bitten und sie lernen. Bedenkt, daß Tausende kommen würden, wenn ihr, die hohen Tulkus, eure Einweihungen bekommt. Alle diese Leute, die ganze Masse, würden eure Schüler werden”, lockte Paljur seine Zuhörer. “Kalu Rinpoche ist ein großer Meister. Ihr solltet ihn um die Rinchen Terdzö-Einweihung bitten, eine der Einweihungen mit größter Nachfrage“, faßte der Lama seine Argumente zusammen.
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