«Macht zwölf vierzig!»
Max legt fünfzehn Franken auf den Tisch.
Der Kellner sucht nach Kleingeld.
«Stimmt so.»
Er hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er es sich gar nicht mehr leisten kann, grosszügig zu sein. Schliesslich macht er sich ungewaschen und unrasiert auf den Weg zum Arbeitsamt.
Der Beamte will ihn zuerst gar nicht reinlassen, drückt dann aber beide Augen zu. Es hat heute eine längere Kolonne, vermutlich ist wieder eine Firma geschlossen worden, oder der Beamte kam zu spät. Jeder in der Schlange, schaut sich mitleidig nach Max um. Sie haben sofort bemerkt, dass er grosse Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Jedem fällt auf, dass sein Outfit dem Beamten garantiert missfallen wir. Nur gut, dass man schon vorher drankommt. Der Beamte wird sicher sauer werden. Das wird ein Theater absetzen.
«Was guckt ihr alle so blöd? Ihr Deppen!», grölt Max, «darf man sich nicht voll laufen lassen, wenn man mit 31 schon geschieden wird? Wenn die eigenen Kinder einem nicht mehr sehen wollen? Wenn man keine Wohnung hat und die Nacht auf einer Friedhofsbank schläft und man an diesem Scheissschalter anstehen muss?»
Beschämt schauen die Kolonnensteher nach vorne. Wie wird der Beamte reagieren? Jeder erwartet, dass er loslegt, doch der Beamte bleibt ruhig.
Max randaliert weiter, schimpft über die unfähigen Politiker, über seine Exfrau und über seinen Exchef, der nach Brasilien verduftet ist. Plötzlich wird die Kolonne schnell kürzer. Der Beamte beeilt sich, die letzten noch Anstehenden so schnell wie möglich abzufertigen. Es sind eh nur noch die hoffnungslosen Fälle. Die sind im Moment nicht zu vermitteln. Max Meier wäre mit seiner Ausbildung noch jemand, den man unterbringen könnte, aber der Beamte sieht ein, dass heute nichts zu machen ist. In dieser Verfassung schickt man ihn besser nicht auf Stellensuche, das wäre kontraproduktiv.
Endlich ist Max an der Reihe, er streckt seine Karte in den Schalter und erwartet, dass der Beamte loslegt. Der drückt aber nur seinen Stempel auf die Karte und gibt sie ihm zurück.
«Und, wo soll ich heute Nacht schlafen?», fragt Max den Beamten, «ich musste meine Wohnung räumen. Ich habe nur diese Plastiktasche.»
«Das ist Ihr Problem, versuchen Sie es bei der Heilsarmee, oder beim Pfarrer», schlägt der Beamte vor und bemüht sich, das Türchen zu schliessen.
Bald darauf steht Max wieder vor dem Arbeitsamt auf der Strasse und weiss nicht wie es weiter gehen soll. Die zwanzig Franken, welche ihm pro Tag zum Verbrauchen bleiben, hat er für heute schon fast ausgegeben. Er wird das Budget überziehen müssen.
«Hast du Probleme? - Ich bin Otto», stellt sich der verlauste Typ vor, «komm doch mit zum Gleisspitz, dort treffen sich viele Obdachlose. Gemeinsam ist es einfacher zu ertragen.»
Max ist diese Einladung nicht unangenehm. Er hat immer noch Probleme mit anderen Leuten zu sprechen. Doch, dank seinem alkoholisierten Zustand überwindet er seine Hemmungen.
«Ich kann ja mal vorbeischauen», antwortet Max.
Auf dem Weg zum Gleisspitz gibt ihm Otto einige nützliche Typs: «Kauf deine Weinflasche im Supermarkt und nicht in der Kneipe, sonst bist du zu schnell pleite. Wenn du das Geld richtig einteilst reicht es weiter, als du denkst.»
Je länger Max mit Otto zusammen ist, umso unheimlicher wird er ihm. Seine Ratschläge haben zwar etwas für sich. Max hatte jedoch zu lange etabliert gelebt, um diese Tagediebe zu verstehen. In seinem jetzigen Zustand ist ihm das egal, es tut ihm gut, wieder mit jemandem zu reden, denn seit der Gerichtsverhandlung hat er nur mit dem Kellner und dem Beamten im Arbeitsamt gesprochen.
Am Gleisspitz ist Max schockiert. So hat er sich immer den Letten in Zürich vorgestellt. Dass es so etwas auch im biederen Olten gibt, überrascht ihn. In kleinen Gruppen hängen die unmöglichsten Typen rum. Max ist sich noch nicht bewusst, dass er gute Aussichten hat, auch so ein Landstreicher zu werden. Normalerweise wäre er sofort umgekehrt und hätte sich aus dem Staub gemacht. Nun trottet er Otto hinterher, der geht auf eine Gruppe zu, die sich im hinteren Teil des Parks, auf zwei Parkbänken ausgebreitet hat. Die Gruppe nimmt von den Neuankömmlingen kaum Notiz.
Otto kramt in seinen Taschen. Nach und nach kommen verschiedene Gegenstände zum Vorschein. Otto legt sie vor sich auf den Parkboden und ist beschäftigt, bis ihm plötzlich einfällt, dass er ja jemand mitgebracht hat.
«Soll ich dir auch einen Schuss beschaffen», fragt er Max, «in deinem Zustand würde ich zwar darauf verzichten, zusammen mit Alkohol gibt es ein Horrortrip. Aber wenn du nur sehr wenig nimmst, dann ginge es schon.»
«Nein danke», erwidert Max, «ich kenne mich in solchen Dingen nicht aus.»
Otto lässt sich nicht weiter stören und macht in seinen Vorbereitungen weiter. Max schaut sich in der Gruppe um, ob er wenigstens einen findet, dem er seine beschissene Lage erklären kann. Die meisten der Gruppe sind auf ihrem Trip und deshalb nicht ansprechbar. Ein etwa neunzehnjähriges Mädchen diskutiert mit einem Jungen über ihre Probleme mit den Freiern. Die Diskussion ist für Max kaum verständlich, fast für jedes Wort haben die einen Ausdruck, welcher er noch nie gehört hat. Der Streit dreht sich um den Unterschied, zwischen der Tätigkeit als Strichjunge und der einer Hure. Der Unterschied liegt vor allem in der Bezahlung, anscheinend verdient der Strichjunge bedeutend mehr, muss aber die verrückteren Dinge über sich ergehen lassen.
Otto ist inzwischen auf seinem Trip. Max kennt das bisher nur vom Fernsehen. Es wird ihm schlecht und er muss sich fast übergeben. Auf jeden Fall reicht es ihm für heute, das ist wirklich nicht sein Umgang. In Zukunft wird er einen grossen Bogen um den Gleisspitz machen.
Wieder auf der Strasse angelangt, merkt er, dass er wieder nüchtern wird. Nach diesem Schock kann er allerdings mit seiner Situation besser umgehen. Verglichen mit denen, geht es ihm richtig gut.
Jeder Schritt, den er der Aare entlang geht, erinnert ihn an seine Buben. Was machen sie jetzt? Sicher gefällt es ihnen bei den Grosseltern, schliesslich können sie dort machen was sie wollen. Ob sie ihn vermissen? Vermutlich nicht, denn in letzter Zeit, war er wirklich unausstehlich. Die belastenden Probleme der Arbeit konnte er zu schlecht verstecken und brachte seine schlechte Laune mit nach Hause.
Bei einer Parkbank, von der man auf die Aare blicken kann, setzt er sich und betrachtet das träge dahinfliessende Wasser. So langsam gehen ihm seine Erinnerungen wieder auf die Nerven, er öffnet eine Weinflasche, welche er im Supermarkt gekauft hat und trinkt in einem Zug, die halbe Flasche aus.
Nun macht er sich Gedanken wie es weiter gehen soll. Er will nicht den ganzen Tag mit seinen schweren Tragetaschen unterwegs sein. Es ist ein kühler Frühlingstag und es sind noch nicht viele Spaziergänger unterwegs. Er nimmt seine Wanderung wieder auf. Nun hat er das Stadtgebiet verlassen und erreicht ein kleines Auenwäldchen. Er erinnert sich an die Zeit, als er noch Mitglied im Fischerclub war. Dieser Club hatte hier eine kleine Hütte. Vielleicht haben die den Schlüssel immer noch am gleichen Ort versteckt, er will nachsehen. Tatsächlich findet er den Schlüssel schnell, er ist nicht mehr am gleichen Ort versteckt, doch das Versteck ist nicht origineller gewählt worden. Er nimmt sich vor, heute Abend hier zu übernachten, am Tag getraut er sich nicht in die Hütte einzudringen, das Risiko ist ihm zu gross. Er deponiert seine Taschen hinter dem kleinen Geräteschuppen unter einem Busch. Dort wird niemand nachsehen und die Sachen sind vom Regen geschützt. Er steckt sich einige Dingen in einen Plastiksack und verlässt sein neues Zuhause wie ein Dieb. Jetzt trägt er nur noch die Weinflasche, das Geld und sein Nachtessen auf sich. Das Handy lässt er zurück, es hat keinen Akku mehr und die SIM-Karte ist beinahe leer.
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