„Kann ich mir die Leiche jetzt anschauen?“
„Wenn Sie unbedingt wollen. Sie haben noch genau 10 Minuten, dann geht die Leiche in die Gerichtsmedizin nach München. Ich habe die dortigen Kollegen bereits informiert, auch die sind sehr an dieser Leiche interessiert. Also, beeilen Sie sich.“
„Zu gütig,“ sagte Leo. Er kniete vor der Leiche und dabei war es ihm egal, dass seine Hosen nun auch ruiniert waren. Das Gesicht der Frau, dieses Faschingskostüm und dann noch diese unwirkliche Umgebung ließen ihn erschauern. Langsam zog er sich die Handschuhe über und kramte in der zum Kostüm gehörenden Umhängetasche, aber diese war leer, wie Fuchs gesagt hatte. Noch einige Minuten besah sich Leo ungläubig die Leiche, während Fuchs in seinem Wagen saß. In Leos Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander. Was wollte die junge Frau hier? Wie kam sie hierher? Wie kam sie ums Leben? Und was ist das hier für ein seltsamer Ort?
„Träumst du?“
Erschreckt zuckte Leo zusammen. Seine Vorgesetzte und Lebensgefährtin Viktoria Untermaier hatte sich unbemerkt neben ihn gestellt.
„Meine Güte, ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen!“, rief Leo erleichtert, als er in das vertraute Gesicht seiner Viktoria blickte. „Ich war völlig in Gedanken. Warum schleichst du dich an mich ran?“
„Habe ich nicht, du hast mich nur nicht bemerkt. Was machst du eigentlich hier? Du solltest doch längst zuhause sein und deine Koffer packen.“
„Die Leiche kam dazwischen. Aber jetzt, wo ihr endlich da seid, habe ich ab sofort offiziell Urlaub.“
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche zuerst?“
„Mir egal.“
„Also, die gute zuerst: Werners Frau hat eine kleine Tochter zur Welt gebracht. Die Kleine kam viel zu früh und Werner ist umgehend ins Krankenhaus gefahren, den hielt nichts mehr. Er machte sich riesige Sorgen um seine kleine Tochter und natürlich um seine Frau und möchte bei ihnen sein. Ich habe ihm frei gegeben, das versteht sich von selbst.“
„Natürlich freue ich mich für Werner. Unter den Umständen kann ich mir lebhaft vorstellen, was die schlechte Nachricht ist: Werner bleibt bei Frau und Kind, wodurch mein Urlaub vorerst gestrichen ist?“
„Du hast es erfasst. Es tut mir echt Leid Leo, du hättest dir deinen Urlaub wirklich verdient. Aber ich habe Werner grünes Licht gegeben und damit über deinen Kopf hinweg entschieden. Ich hoffe, das geht für dich in Ordnung und du hast Verständnis. Krohmer bemüht sich um eine Lösung, aber bis dahin bleibst du im Dienst.“
Leo blickte in die schuldbewussten Augen seiner Viktoria. Die 48-jährige, nur 1,65 m große und sehr hübsche Frau setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und Leo konnte nicht anders: Er war einverstanden. Natürlich freute er sich für seinen Kollegen Werner Grössert, dass er nun endlich Vater geworden ist, was viele nicht für möglich gehalten hatten, denn Werners Frau litt unter einer schweren Hautkrankheit und musste nicht nur viele Medikamente einnehmen, sondern auch immer wieder für längere Zeit in Spezialkliniken. Wie durch ein Wunder wurde die Frau trotz der Medikamente schwanger und alle bangten bis zum Schluss mit ihrem Kollegen Werner Grössert. Alle mochten Werners warmherzige Frau, die es in der Familie Grössert nicht leicht hatte. Sie wurde von den übermächtigen Eltern, die eine angesehene Anwaltskanzlei in Mühldorf betrieben, nicht akzeptiert, da sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Und jetzt waren die beiden Eltern geworden! Leo freute sich riesig!
„Natürlich verstehe ich dich und es versteht sich von selbst, dass ich einverstanden bin.“ Leo hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, dass er sich sehr gerne um den Fall kümmern würde, denn für ihn passte auf den ersten Blick absolut nichts zusammen.
„Wie ich sehe, haben wir es mit einer kostümierten Leiche zu tun?“, fragte Hans Hiebler, der nun auch eingetroffen war und fasziniert auf die Leiche vor sich blickte. „Was zum Teufel ist das denn für ein Hexenkostüm?“ Den 53-jährigen, 1,80 m großen, sportlichen Kollegen umhüllte heute wieder ein angenehmer Herrenduft, der auch hier im Wald langsam um sich griff.
„Das ist kein Hexenkostüm,“ klärte Leo die beiden Kollegen auf. „Bei diesem Kostüm handelt es sich um ein Faschingskostüm der Ulmer Narrenzunft.“
„Wie bitte? Wie kommt das denn hier her? Bist du dir da ganz sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher, ich habe schließlich lange genug in Ulm gelebt und kam nicht umhin, auch beruflich mit Maskierten in diesen und ähnlichen Kostümen zu tun zu haben. Wenn ich mich nicht irre, ist Christine sogar Mitglied in diesem Verein. Jedes Jahr hat sie mich mit ihrer Faschingsbegeisterung genervt, aber ich habe damit überhaupt nichts am Hut. Ich kann nicht auf Kommando lustig sein. Für mich ist Fasching nur ein offizieller kalendarischer Grund, die Sau rauszulassen und sich volllaufen zu lassen. Eine Zeit, in der man jede Hemmung fallen lassen und sich gehen lassen kann. Das ist nichts für mich.“
„Du bist in der Beziehung ganz schön versnobt und voller Vorurteile. Dich hat der Geist des Faschings nur nicht gepackt. Ich finde diese närrische Zeit hervorragend und bedauere sehr, dass sie in unserer Gegend nicht ganz so ausgelassen gefeiert wird,“ sagte Hans Hiebler. „Ich hatte mal eine Freundin aus Köln. Und wenn du dort nicht von diesem Fieber angesteckt wirst, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Man kann sich nicht nur gehen lassen, sondern man darf sich über alles und jeden lustig machen, mal so richtig aus sich rausgehen. Und das Feiern unter Gleichgesinnten ist einfach nur herrlich!“ Hans schwärmte in den höchsten Tönen und nahm sich fest vor, den nahenden Fasching mal wieder so richtig zu feiern, die passenden Leute würde er dafür schon finden.
„Du verarschst mich jetzt, oder? Du findest Fasching wirklich gut? Vielleicht ab 2 Promille, das könnte ich akzeptieren. Und natürlich nur unter Gleichgesinnten.“
„Gemeinsame Interessen funktionieren nur unter Gleichgesinnten. Du gehst doch auch nicht mit einem Strickclub zum Fußball.“
Die beiden verstummten und sahen zusammen mit Viktoria zu, wie die Leiche vorsichtig in den Zinksarg gelegt wurde und dann abtransportiert wurde.
„Die Frau hatte keine Papiere bei sich. Wir müssen also zuerst herausfinden, mit wem wir es zu tun haben.“
„Wenn wir hier nichts mehr tun können, treffen wir uns im Präsidium. Krohmer hat Wind von dieser Leiche hier bekommen; ich tippe auf Frau Gutbrod. Er hat vorhin angerufen und erwartet uns zu einem ersten Bericht. Er möchte Fotos der Leiche sehen,“ verdrehte Viktoria Untermaier die Augen, die am liebsten nach Hause gefahren wäre, denn der Tag war lange und sie fror in ihren dünnen Gummistiefeln und der leichten Jacke. Vor allem hatten sie heute bereits eine Ewigkeit mit dem Chef zusammengesessen – und jetzt schon wieder! Viktoria und Hans wechselten an ihren Fahrzeugen die Schuhe, Leo hatte wie immer keine anderen Schuhe dabei und wischte mit Taschentüchern notdürftig und völlig aussichtslos seine verdreckten Cowboystiefel ab.
„Einen Moment noch,“ hörten sie die Stimme ihres Kollegen Friedrich Fuchs lautstark rufen. „Ich habe noch etwas für Sie, das wichtig sein könnte.“ Da Fuchs keine Anstalten machte, zu ihnen zu kommen, mussten sie wohl oder übel nochmals die Schuhe wechseln und wieder durch den Matsch zu ihm gehen. Vor allem Leo war stinksauer, denn er hatte keine Taschentücher mehr. Aber was sollten sie machen? Fuchs war stur und würde so lange warten, bis sie bei ihm waren.
„Ich hoffe für Sie, das ist wirklich wichtig,“ schnauzte Leo mit Blick auf seine Stiefel.
„Selbstverständlich. Würde ich Sie wegen einer Nichtigkeit rufen? Dieses Hexenkostüm ist bei einem Banküberfall in Reischach vor gut drei Wochen aufgetaucht, genauer gesagt am 18. Dezember. Wir wurden damals gerufen, weil der Bankräuber eben dieses Hexenkostüm anhatte, das wir dann in einem öffentlichen Abfalleimer an einer Bushaltestelle in Reischach nicht weit von der Bank entfernt gefunden haben. Das Kostüm befindet sich in der Asservatenkammer. Einer meiner Mitarbeiter hat mich darauf aufmerksam gemacht und ich entschuldige mich an dieser Stelle für meine Unaufmerksamkeit. Ich habe eben in meinen Unterlagen nachgesehen und sehen Sie selbst.“ Fuchs hielt ihnen seinen Laptop vor, auf dem das Bild des gleichen Faschingskostüms zu sehen war.
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