»Ich muss meine Gedanken ordnen«, entschied sie und radelte, nachdem sie sich von Anke abgemeldet hatte, zurück nach Hause.
Als sie mittags mit ihrem Bruder auf der Terrasse saß, ließ sie die Begebenheiten Revue passieren. Jörg blätterte in einem Buch über antike Seefahrt, konnte sich aber nicht konzentrieren, weil ihn eine unregelmäßige Bewegung ablenkte, die er in den Augenwinkeln wahrnahm. Er schaute auf und sah, wie seine Schwester fortwährend ihren Kopf schüttelte.
»Was, in Gottes Namen, beschäftigt dich denn so sehr?«, fragte er sie und klappte das Buch zu.
»Ach, es war ein blöder Vormittag«, seufzte seine Schwester. »Ich musste Anke ständig unter die Arme greifen, weil Mattis nirgends zu finden war.«
»Mattis Schubiak war heute drüben in der Stadt auf der Bank«, wusste Jörg. Als seine Schwester ihn daraufhin verwundert anstarrte, fügte er hinzu: »Gerlinde war ebenfalls dort und hat ihn gesehen. Als sie vorhin kochte, hat sie es erwähnt.«
Die Witwe Appelhoff machte nur kurz »aha« und gab sich dann wieder ihren Gedanken hin, die sich nun eingehender um Mattis und den merkwürdigen Anruf in der Jugendherberge drehten. Jörg schätzte richtig ein, dass der Gesprächsbedarf seiner Schwester gedeckt war, gab seinem Rollstuhl einen Schubs und verabschiedete sich.
»Ich lese in meinem Zimmer weiter.«
Die Witwe Appelhoff machte wieder nur »aha«. Aber das war Jörg gewohnt. Ebenso war er gewohnt, allein am Kaffeetisch zu sitzen, weil seine umtriebige Schwester ihren Tag gern mit möglichst vielen Vorhaben füllte, die gewöhnliche Leute auf eine ganze Woche verteilen würden. So aß er denn in aller Ruhe sein süßes Hörnchen mit Orangenmarmelade, während die Witwe Appelhoff bereits ihr Fahrrad vor der Jugendherberge abschloss und Anke Schubiak aufsuchte.
»Nanu«, wunderte sie sich, »ich finde dich mit dem gleichen besorgten Gesichtsausdruck vor wie heute Morgen. Immer noch Ärger wegen der Schmidts? Ich dachte, da wäre langsam Gras drüber gewachsen…«
»Ach, das ist Schnee von gestern«, winkte Anke Schubiak ab. »Viel schlimmer ist, dass wir einen Dieb im Haus haben. Deswegen habe ich auch unseren Gendarm herbestellt.«
Ortspolizist Peer Hövelmeyer kam aus dem Hinterzimmer und grüßte freundlich. Auf den fragenden Blick der Witwe Appelhoff erklärte er:
»Herr Bunsen kann seit der Mittagsruhe seine neu gekauften Schlaftabletten nicht finden und dann stellte Frau Schubiak fest, dass auch noch ihr Geld weg ist.«
»Welches Geld?«
»Unsere Einnahmen vom letzten Monat«, sagte Anke. »Ich hatte sie noch nicht zur Bank gebracht. Jetzt kann ich Sönke das Gehalt nicht zahlen, er wird sich weigern zu kochen und dann haben wir die Komitee-Mitglieder endgültig verprellt, überempfindlich, wie die sind.«
Die Witwe Appelhoff war nicht dumm. Was, wenn das Komitee absichtlich überempfindlich reagierte? Vielleicht waren die zwei nicht nur Schmarotzer, sondern auch Diebe? Der Ärger mit den Schmidts wäre für sie leicht auszunutzen gewesen: Bei dem morgendlichen Trubel hätte einer von ihnen heimlich an den Safe gehen können, während die Herbergsmutter mit den Gästen gestritten hatte.
»Und wenn zwei Herbergsgäste Hals über Kopf abreisen und gleichzeitig Geld verloren geht, liegt es schließlich nahe, dass es einen Zusammenhang gibt«, fuhr sie fort. »Bunsen und Staudt könnten jeglichen Verdacht auf den Vater und seine Tochter lenken, um denen das Verbrechen anzuhängen.«
Anke zerstreute ihren Verdacht.
»An den Safe kommt keiner so leicht ran, der ist in meinem Schlafzimmer. Weder Bunsen noch Schmidt wären dahin gelangt.«
»Trotzdem könnte das Geld noch bei jemandem hier im Haus sein. Hövelmeyer muss eine Durchsuchung machen.«
»Und wenn sich das Ganze als Irrtum herausstellt, haben wir eine Verleumdungsklage am Hals. Nicht zu reden davon, dass wir den Heibideu vergessen können.«
Die Witwe Appelhoff schielte in die Kantine. Frau Staudt schenkte ihrem Kollegen gerade eine Tasse Tee ein und versuchte ihn aufzuheitern. Sie riet ihm sogar, die Einladung an den Bodden anzunehmen, um mit der Prüfung der Angebote fortzufahren. Das tat sie so freundlich, dass die Witwe Appelhoff zugeben musste, in ihr nur schwerlich eine Kriminelle sehen zu können.
»Aber wer käme denn noch in Frage? Während des fraglichen Zeitraums waren doch sonst keine Gäste in der Herberge, oder?«
Anke verneinte.
»Und deine Mitarbeiter?«
»Die Aushilfe hatte gestern frei. Deswegen konnte ich dich ja so gut gebrauchen. Sönke hat keine Ahnung, wo der Safe ist.«
»Bleibt nur noch einer.«
Anke wurde rot.
»Wenn du auf Mattis anspielst, vergiss es. Er ist kein Dieb.«
Die Witwe Appelhoff sprach nicht weiter. Doch ihr Schweigen wirkte.
»Gut, wenn du meinst, können wir gern auf sein Zimmer gehen und ihn fragen«, lenkte Anke ein. »Aber du wirst schon sehen, dass dabei nichts herauskommt.«
Sie lief voran, die Personaltreppe hinauf, an deren Ende Mattis seine private Unterkunft hatte. Peer Hövelmeyer und die Witwe Appelhoff folgten ihr. Letztere versuchte, ihre Freundin zu beruhigen.
»Ich sage ja nicht, dass Mattis das Geld gestohlen hat. Er hat es womöglich nur genommen, um es für dich zur Bank zu bringen. Mein Bruder erzählte mir, dass er dort gesehen wurde.«
Anke Schubiak schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, gab ein spöttisches »Ach was?« von sich und drückte auf die Klinke. Die Tür zu Mattis’ Zimmer war von innen verschlossen.
»Mattis, öffne bitte«, rief Anke Schubiak, »wir möchten dir eine Frage stellen.«
Als keine Antwort ertönte, begann die Herbergsmutter an die Türe zu klopfen.
»Seltsam, ich weiß, dass er dort drin ist.«
»Wann sahen Sie ihn denn zuletzt?«, wollte Hövelmeyer wissen.
»Heute Mittag tauschten wir uns kurz aus, da schloss er gerade seine Tür. Sie knarrt sehr laut, deswegen weiß ich, dass sie seitdem nicht mehr geöffnet wurde. Ich hätte das bei dem wenigen Betrieb hier gewiss gehört.«
Die Witwe Appelhoff atmete plötzlich scharf ein.
»Herr Bunsen vermisst seine Schlaftabletten, sagtest du?«
Sie griff Anke Schubiaks Arm.
»Hövelmeyer, brechen Sie die Tür auf. Sofort!«
Die zwei anderen errieten rasch, was die Witwe Appelhoff vermutete. Der Polizist warf sich zuerst mit der Schulter, dann mit der Wucht seines ganzen Körpers gegen die Zimmertür. Sie sprang auf und es bot sich das befürchtete Bild: Mattis lag reglos auf dem Bett, eine leere Schachtel Schlaftabletten neben ihm.
»Wir müssen Doktor Kröger holen«, schrie Anke Schubiak auf.
»Ein Rettungsdienst ist hier weitaus eher angebracht«, widersprach die Witwe Appelhoff. »Hövelmeyer, rufen Sie sofort Hilfe.«
Die kam auch, allerdings stellte sich ihre Notwendigkeit als gar nicht so dringend heraus wie angenommen.
»Ihr Sohn hätte doppelt so viele von den Dingern schlucken können, ohne ernste Folgen«, berichtete der Rettungssanitäter. »Es handelt sich um ein harmloses Schlafmittel. In manchen Ländern gibt’s das sogar rezeptfrei.«
»Er lag so still da und schlief so tief«, entgegnete Anke Schubiak.
»Dass die Tabletten harmlos sind, heißt ja nicht, dass sie keine Wirkung haben. Ich denke, um Mitternacht herum wäre er wieder zu sich gekommen und hätte sich gewundert, wo der Tag hin ist.«
Die besorgte Mutter brachte den Rettungsdienst hinaus. Die Witwe Appelhoff setzte sich ans Bett des benommenen Sohnes und schüttelte tadelnd den Kopf.
»Wie kommt es, dass du deiner Mama einen solchen Schrecken einjagst?«, fragte sie.
»Ich glaubte, es wäre besser so«, lallte Mattis mit schwerer Zunge. »Wie ich mich schäme! Wenn mein Dahinscheiden so geklappt hätte wie geplant, würde man meinen Abschiedsbrief in der Schublade gefunden haben.«
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