Ihre »Chefin« war die wohlhabende Witwe Appelhoff, die gemeinsam mit ihrem Bruder in einem ehemaligen Gutsverwalterhaus lebte, welches etwas abgelegen von Friedershagen nahe am Bodden lag. Mit seinem Reetdach und der roten Backsteinfassade gehörte es zu den Schmuckstücken des Ortes. Gerlinde hatte dort bereits als junges Küchenmädchen gearbeitet, als die Witwe Appelhoff noch ein kleines Kind gewesen war. Später war sie zur Köchin und Haushaltshilfe aufgestiegen.
Aufgrund der vielen Jahre, die sie treu für die Familie gearbeitet hatte, und der wenigen Jahre, die zwischen ihrem Alter und dem der Witwe lagen, hielt Gerlinde allzu viel Förmlichkeit für unnötig. Ohne ihr Kommen mit einem Klopfen anzukündigen, platzte sie ins Speisezimmer und verkündete:
»Die Herrschaften vom Heibideu treffen ein. Die Schubiak wartet.«
»Danke dir, Gerlinde«, sagte die Witwe Appelhoff, am Kopfe des hölzernen Esstisches thronend, woraufhin die Köchin nickte und sich in ihre Küche zurückzog.
Ihr Bruder Jörg, der in seinem Rollstuhl an der breiten Längsseite saß, unterbrach für einen kurzen Augenblick die Zerteilung einer dicken Kartoffel.
»Heibideu?«, fragte er. »Heckst du wieder ein Projekt aus, um die verkorkste Jugend zu retten?«
»Wenn du es so formulieren willst«, antwortete die Witwe. »Anke will mit ihrer Jugendherberge dem Verein der Heimatlichen Bildungsreisen beitreten.«
»Und sie kann sich die Vereinsbeiträge leisten?«
Jörg war jemand, der stets skeptisch blieb und jeder guten Idee etwas Negatives abgewinnen konnte. Aber gerade darum mochte ihn seine Schwester so gern.
»Ich werde das Geld zunächst für sie auslegen. Für den Mitgliedsbeitrag erhält Ankes Jugendherberge Werbung in den Vereinsprospekten, die wiederum bundesweit an alle Schulen gehen, sowie eine Homepagegestaltung über Heibideu selbst. Unsere Hoffnung ist, dass durch die Reklame mehr Schulklassen auf uns aufmerksam werden und herkommen. Dann kommen die Auslagen wieder rein.«
»Und was sollen die Kinder hier in unserem abgelegenen Nest treiben? Auf die Bäume klettern, um W-LAN-Empfang zu kriegen?«
»Sie sollen etwas über die Boddenlandschaft lernen, die ja mehr oder weniger einzigartig ist«, erklärte die Witwe Appelhoff und fuchtelte dabei ungeduldig mit Messer und Gabel herum. »Sachkundelehrer nehmen ein Angebot wie dieses gewiss gern wahr. Stadtkinder können ihrer betonierten Umgebung entfliehen und sich hier in freier Natur bewegen. Dabei lernen sie die Küstenflora live kennen, statt darüber in trockenen Lehrbüchern zu lesen.«
»Noch dazu dürfen sie am Strand lärmen, bis sich keiner mehr dort entspannen kann«, bemerkte Jörg, denn er war auch jemand, der gern sarkastische Bemerkungen machte. Dies wiederum schätzte seine Schwester nicht sehr.
»Falls es dich tröstet: Der Heibideu richtet sich auch an Senioren und gestaltet geschichtliche Reisen aus. Einen Historiker wie dich dürfte das doch freuen?«
»Ich freue mich«, brummte Jörg und stocherte in seinem Gemüse herum.
Die Angewohnheit seiner Schwester, sich und ihr Vermögen für allerlei wohlmeinende Zwecke einzusetzen, empfand er trotz aller Ehrbarkeit manchmal als anstrengend. Die Witwe Appelhoff hingegen strahlte unbezwingbares Selbstvertrauen aus. Mit teurer Jacke und adrettem Hut bestückt, verabschiedete sich von Jörg, rief Gerlinde durch den Flur noch ein lautes »Tschüs« zu und schwang sich aufs Fahrrad.
Keine fünf Minuten brauchte sie, da war sie schon bei Anke Schubiak angelangt. In ihrem Übermut wäre sie beinahe mit einer anderen Frau zusammengestoßen, die soeben aus der Herberge trat, um abzureisen. Die Fahrradbremse quietschte, die fremde Frau erschrak und ihre pinkfarbene Reisetasche fiel zu Boden, als sie – gerade noch rechtzeitig – auswich.
»Entschuldigen Sie vielmals«, bat die Witwe Appelhoff.
»Kein Problem«, gab die Urlauberin freundlich zurück und begutachtete ihr pinkfarbenes Kleid, ob der aufgewirbelte Staub auch ja keine Flecke hinterlassen hatte. »Bei der Hitze sind unsere Reflexe eben nicht die besten, gell?«
»Lassen Sie mich wenigstens helfen, Ihr Gepäck wieder aufzulesen.«
Die beiden kamen ins Gespräch und nebenbei erspähte die Witwe Appelhoff, wie Anke Schubiak an der Tür zwei gut gekleidete Gäste empfing.
»Was das wohl für Leute sind?«, fragte die pinkfarbene Urlauberin. »Sie erscheinen mir etwas overdressed für den Besuch einer Jugendherberge, gell?«
»Das muss das Komitee sein, dass die Einrichtung prüfen will«, antwortete die Witwe Appelhoff. »Es geht um die Mitgliedschaft in einem neuen Netzwerk, müssen Sie wissen.«
Die beiden gut gekleideten Gäste verschwanden hinter der Eingangstür und ehe sie zufiel, schlüpften Alfons und Madeleine Schmidt hinaus und liefen in Richtung Strand.
»Komm, Papa, beeile dich!«, rief das junge Mädchen fröhlich.
»Dein alter Herr kann nicht so schnell, lauf nur schon voran!«
Die Witwe Appelhoff verabschiedete sich inzwischen von ihrer Zufallsbekanntschaft.
»Ich muss jetzt hinein und dazustoßen. Ich bin froh, dass unser kleiner Beinahe-Unfall nichts angerichtet hat und wünsche Ihnen eine gute Heimreise. Nicht wahr, es hat Ihnen in Schubiaks Jugendherberge doch sehr gefallen?«
»Äh, ja«, erwiderte die Urlauberin. »Es war alles hervorragend.«
Sie runzelte die Stirn, während sie ihre Reisetasche in den Kofferraum steckte.
»Klingt nach einem ›aber‹?«
Die Witwe Appelhoff wollte unbedingt wissen, ob etwas nicht in Ordnung gewesen sei. Jeder kleinste Mangel könnte schließlich den Erfolg beim Heibideu gefährden!
»Mir ist, als hätte ich die zwei Herrschaften schon mal gesehen«, sagte die Frau langsam. »In einem anderen Urlaubsort, letztes Jahr…«
»Das kann gut sein«, meinte die Witwe Appelhoff. »Die müssen sich ja vom Verein aus verschiedene Herbergen anschauen und reisen demzufolge viel herum.«
Die pinkfarbene Frau setzte sich ins Auto und startete den Motor, wirkte dabei aber geistesabwesend. Die Witwe Appelhoff wollte schon gehen, da rief ihr die andere aus dem geöffneten Fenster zu:
»Ich kann mich irren, aber ich muss Sie warnen: Die beiden sind nicht das, wofür sie sich ausgeben!«
Und damit fuhr sie davon. Nun war es die Witwe Appelhoff, die die Stirn runzelte. Was sollte sie denn mit dieser Warnung anfangen?
»Bestimmt irrt sich die Dame«, sagte sie zu sich. »Sie hat ja vorhin zugegeben, dass die Hitze ihr zusetzen würde.«
Die kryptischen Worte der Abreisenden beiseite schiebend, betrat sie die Jugendherberge und stellte fest, dass sich Anke Schubiaks Aufregung inzwischen so weit gesteigert hatte, dass ihre Geschwätzigkeit in völlige Sprachlosigkeit umgeschlagen war: Kaum eine Silbe konnte die Herbergsmutter von sich geben, während ein grauhaariger, untersetzter Herr mit Schnauzbart und eine dünne Dame mit verschnörkelter Brille auf der Hakennase sich bei ihr als Komitee für Heimatliche Bildungsreisen Deutschland e.V. vorstellten.
»Wir sind sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Frau Schubiak«, lächelte der Herr und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Ewald Bunsen und das neben mir ist Mechthild Staudt.«
»Ja«, sagte Anke Schubiak nur und hätte beinahe ehrfürchtig einen Knicks gemacht, bevor sie sich darauf besann, wie albern das wirken würde.
»Wie besprochen werden wir die kommenden drei Nächte in Ihrem Etablissement verbringen und prüfen, ob Ihre Programmideen sowie die Angebote in der unmittelbaren Umgebung zu unserem Verein passen«, fügte die dünne Dame hinzu.
»Ja«, sagte Anke Schubiak wieder und blickte sich verunsichert um, als ob sie Verstärkung suche.
Die kam – rechtzeitig vor einer peinlichen Pause – in Gestalt der Witwe Appelhoff, welche energisch den Arm des älteren Herrn ergriff und kräftig schüttelte.
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