Und dankbar nahm Frau Staudt zur Kenntnis, wie die anderen drei ihren Vorschlag annahmen. In der Herberge angekommen, wurden die Fahrräder abgestellt und man suchte den Speisesaal auf.
»Mattis wird die Räder in den Keller stellen«, sagte Anke Schubiak und sah sich suchend nach ihrem Sohn um. »Einstweilen wollen wir uns stärken. Sönke, unser Koch, ist für die Verpflegung hier verantwortlich.«
Sie geleitete das Komitee zur Kantine und stellte den Gästen einen Hünen von Mann vor.
»Freut mich«, sagte Herr Bunsen und wusste nicht, ob er den riesigen Mann siezen oder duzen sollte, denn Sönke war ein Name, den er weder als Vor- noch Zunamen einzuordnen wusste. Der Koch gab einfach nur ein »Tach« von sich und widmete sich wieder seinen Töpfen.
Anke sah sich immer noch nach Mattis um, fand ihn aber nicht. Die Witwe Appelhoff holte erneut ihre Unterlagen hervor und breitete sie auf dem Esstisch aus.
»Vorhin sprachen wir ja von den Angeboten, die wir erwachsenen Heibideu-Kunden machen könnten. Aber auch für Bildungsreisende im Grundschulalter haben wir etwas Feines: Eine Rallye bezüglich der Geschichte unserer Gegend! Das kommt bei Kindern ja immer an. Was Natur und Umwelt angeht, hat uns eine Lehrerin von hier geraten, Elemente wie Stationenlernen oder Gruppenpuzzle einzubinden. Was meinen Sie?«
Frau Staudt zeigte sich sehr beeindruckt und auch Herr Bunsen nickte zufrieden, bewiesen die Ausarbeitungen doch eindeutig, wie sehr sich die hiesige Jugendherberge auf die prüfenden Blicke des Vereins vorbereitet hatte. Sie diskutierten weitere denkbare Bildungsangebote, wobei die Witwe Appelhoff bemerkte, dass beide Vertreter vom Heibideu sich sehr gut mit den Gesprächsinhalten auskannten.
»Also sind sie doch vom Verein«, sagte sie sich, »und keine Betrüger. Man sollte eben auf die Worte von Zufallsbekanntschaften nichts geben.«
Frau Staudt fragte, ob es in Friedershagen auch schöngeistige Schätze wie berühmte Dichter oder Musiker gebe. Bunsens ursprüngliche Idee eines Kochkurses für Jugendliche, um ihnen die heimische Küche nahezubringen, kam allerdings nicht zur Sprache. Sönke hatte zwar ein schmackhaftes Abendgericht zubereitet, welches für Kantinenspeise wirklich überdurchschnittlich gut war; sein Auftreten wirkte aber nach wie vor einschüchternd und abweisend – unpassend für die Art von Kinderkochkurs, die dem Komitee vorschwebte.
Mahlzeit und Gespräch zogen sich bis in den späten Abend hin. Als die Sonne bereits untergegangen war, musste sich die Witwe Appelhoff verabschieden.
»Mein Bruder fragt sich bestimmt, wo ich stecke«, sagte sie und schüttelte den anderen die Hand. »Ich lasse Ihnen die schriftlichen Ausarbeitungen selbstverständlich hier. Vielleicht kann ich Sie ja überreden, mich morgen zu besuchen? Mein Haus liegt unmittelbar am Bodden, da können Sie aus nächster Nähe die vielfältigen Möglichkeiten sehen und einschätzen.«
Sie winkte Sönke zu und gab ihm mit erhobenem Daumen zu verstehen, wie sehr sein Abendessen ihr gemundet hatte. Der Koch nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis, wohl die freundlichste Geste, zu der er fähig war. Die Witwe Appelhoff eilte daraufhin zu ihrem Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und fuhr davon, sich wundernd, dass Mattis die anderen drei Räder noch immer nicht in den Keller gebracht hatte.
Anke Schubiak kehrte mit den Gästen in den Speisesaal zurück und wollte ihnen gerade eine gute Nacht wünschen, als sie wütendes Gebrüll und Türknallen vernahm, das vom ersten Stockwerk zu kommen schien.
»Du meine Güte, ist es bei Ihnen immer so laut?«, fragte Frau Staudt.
»Und das nach Beginn der Nachtruhe«, tadelte Herr Bunsen.
Die Herbergsmutter versprach, nach dem Rechten zu sehen, und eilte hinauf. Auf halber Treppe kam ihr Mattis entgegen, ganz blass um die Nase.
»Kümmere dich um die Räder«, fuhr sie ihn an, ohne anzuhalten.
Oben traf sie einen entrüsteten Herrn Schmidt vor. Seine hohe Stirn leuchtete zornesrot und der Vollbart bebte vor Wut.
»Meine Tochter und ich reisen morgen ab. Unser Aufenthalt ist storniert!«
»Aber was ist denn los?«, wollte Anke Schubiak wissen.
Als Antwort wurde ihr die Tür vor der Nase zugeworfen. Ratlos sah sie zur Nachbartür, wo Madeleine mit verweinten Augen stand. Das Mädchen senkte den Kopf und schloss ihre Zimmertür ebenfalls, wenngleich bedeutend leiser als ihr Vater.
Für gewöhnlich würde Anke Schubiak geklopft und auf eine ausführliche Erklärung bestanden haben. Angesichts des Komitees, das auf der Treppe stand, verzichtete sie jedoch auf eine Fortführung der Szene.
»Wahrscheinlich familiäre Konflikte«, flüsterte sie Herrn Bunsen und Frau Staudt zu. »Kann in den besten Familien vorkommen.«
»So so«, sagte Herr Bunsen nur und zog sich aufs zweite Stockwerk zurück, wo sich sein Zimmer befand.
Frau Staudt folgte ihm stumm.
»Herrje, wie peinlich«, ärgerte sich Anke Schubiak und ging, da sie ja ohnehin nichts mehr an dem Vorfall ändern konnte, zu Bett.
Die Witwe Appelhoff erfuhr all das und noch mehr erst am folgenden Morgen, als sie in Friedershagens einziger Einkaufsmöglichkeit, Becks Lädchen, ihre Besorgungen machte. Dieses Lädchen war eine Mischung aus Kiosk, Lebensmittelgeschäft, Drogerie und Poststelle. Lorenz Beck stand am Schalter und war in ein Gespräch mit Frau Kröger und dem jungen Ortspolizist Peer Hövelmeyer vertieft, während die Witwe Appelhoff bei den Zeitschriften stand und nach einem Rätselheft für Profis suchte.
»Stinkwütend war er, als er ins Auto gestiegen ist«, sagte Frau Kröger, »stinkwütend! Und genauso stinkwütend hat Anke ihm nachgeschaut.«
»Kein Wunder, wenn er die Zeche prellt«, meinte Beck. »Glauben die Leute aus der Stadt etwa, sie würden überall freie Kost und Logis bekommen?«
»Anke Schubiak hat bei uns keine Anzeige gegen ihn erstattet«, gab Peer Hövelmeyer zu bedenken. »Wir wissen also gar nicht, ob er seinen Aufenthalt nun bezahlt oder nicht bezahlt hat.«
»Anke muss ihn verärgert haben«, mutmaßte Frau Kröger.
»Wie das denn?«, fragte Hövelmeyer. »Man hat bisher nie Schlimmes über ihre Herberge gehört.«
»Keine schmutzigen Betten, niemals schlechtes Essen…«, zählte Beck auf.
»Da bleibt nur eine Schlussfolgerung übrig«, behauptete Frau Kröger und sah die Herren mit einem ganz gewissen Blick an.
»Sie meinen –?« Beck wagte die Frage nicht zu beenden.
»Oh ja!« Frau Kröger nickte mehrmals. »Sie ist eine Frau im besten Alter. Und schon so lange geschieden!«
»Nein, das kann ich nicht glauben«, schüttelte Peer Hövelmeyer den Kopf.
Die Witwe Appelhoff hielt es nicht mehr aus. Wenn ihre Freundin Anke in ein Drama verwickelt war, wollte sie das genau wissen. Also fragte sie, was Frau Kröger genau gesehen haben wollte, und erfuhr, wie Herr Schmidt und seine Tochter bereits am Morgen, noch vor dem Frühstück, mit allem Gepäck abgereist waren.
»Hätte ich in dem Moment nicht gerade die Praxisfenster geputzt, ich würde das gar nicht bemerkt haben«, erzählte Frau Kröger.
Sie war die Gattin des hiesigen Arztes und sah es als eheliche Pflicht an, für Sauberkeit und Ordnung in dessen Praxis zu sorgen. Läge sie nicht so günstig in der Ortsmitte, von wo aus man alles Wichtige im Blick hatte – wer weiß, ob sie sich auch nur halb so tüchtig um die Fensterscheiben gekümmert hätte.
»Gestern wirkte die Familie noch sehr zufrieden mit der Herberge«, wunderte sich die Witwe Appelhoff. »Was da wohl vorgefallen sein mag?«
»Sehr peinlich jedenfalls für Anke«, meinte Frau Kröger. »Das Ganze spielte sich vor den Augen ihres hohen Besuchs vom Bildungsverein ab.«
»Und ärgerlich für mich«, fügte Beck hinzu. »Gestern kam die Tochter hier rein und wollte Schminkzeug kaufen, weil ihres zur Neige ging. Jetzt hab ich es bestellt und sie ist schon weg und ich bleibe drauf sitzen.«
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