»Appelhoff mein Name«, lächelte sie, »ich habe Frau Schubiak geholfen, die Programme zu entwickeln, die wir für die Teilnehmer Ihrer Bildungsreisen anbieten könnten. Solange Frau Schubiak Ihre Daten in den PC eingibt und die Schlüssel zu Ihren Zimmern holt, kann ich Ihnen ja bereits ein paar Vorschläge zeigen?«
Während sich Anke Schubiak aus ihrer Starre löste und tat, was die Witwe Appelhoff ihr indirekt aufgetragen hatte, kramte Letztere aus ihrer Tasche mehrere Papierbögen hervor und breitete sie vor Herrn Bunsen und Frau Staudt aus.
»Wie Sie unschwer sehen können, haben wir unsere Ideen nach verschiedenen Kriterien sortiert. Ganz oben finden Sie Möglichkeiten, wie wir Schulklassen Erholung und Bildung zugleich bieten wollen – als Jugendherberge ist das ja unsere wichtigste Klientel. Aber wir haben auch die älteren Herrschaften berücksichtigt, die laut Ihrer Website ebenfalls gern Bildungsreisen über Heibideu buchen…«
Die Witwe Appelhoff hätte am liebsten gleich alles präsentiert, was sie sich für das Komitee ausgedacht hatte. Sie wurde jedoch von Familie Schmidt gebremst, die gerade vom Strand zurückkam. Herr Schmidt hatte sich mit Hut, Sonnenbrille und Jackett weitestgehend vor der Sonne geschützt, Madeleine dagegen trug einen knappen Bikini und hatte ihr Handtuch leger um die Schultern geworfen, um ihre frische Bräune zu präsentieren. Lediglich drei unappetitliche Mitesser auf der Stirnmitte schmälerten ihre jugendliche Schönheit. Fröhlich grüßten sie die anderen Gäste.
»Ein herrliches Wetter bei Ihnen«, schwärmte Herr Schmidt, »und dank der Seeluft leidet man auch nicht so schrecklich unter den Sonnenstrahlen.«
»Noch weniger gelitten hättest du, wenn du ins Wasser gekommen wärst, Vati!«, mahnte seine Tochter, ohne mit dem Kaugummikauen innezuhalten.
»Ach was«, Herr Schmidt zuckte mit den Schultern, »an den Dünen zu wandern ist ebenso schön. Ich habe ja gehofft, einen Kranich zu sehen, aber das ist mir noch nicht gelungen.«
Die Witwe Appelhoff mischte sich ein:
»An den Badestränden werden Sie kaum Glück haben, aber wandern Sie ruhig mal ins Naturschutzgebiet. Kranichzeit ist allerdings erst im Herbst.« Sie wandte sich an das Komitee. »Für eben jenen Zeitabschnitt haben Frau Schubiak und ich überlegt, ein saisonales Sonderprogramm rund um den Kranich zu kreieren. Was meinen Sie?«
Ehe Frau Staudt oder Herr Bunsen etwas erwidern konnten, schlug sich Herr Schmidt an die hohe Stirn.
»Sie müssen von dem Komitee sein, das die Herberge begutachtet, nicht wahr? Und ich plaudere mitten in Ihre Besprechung hinein, das tut mir leid. Was die Kraniche angeht«, er lächelte der Witwe Appelhoff zu, »danke für den Tipp! Dann gebe ich die Suche besser auf und mache es mir am Strand mit einem guten Buch gemütlich.«
»Du kannst gern von mir diesen schrecklichen Roman haben, den wir über die Ferien lesen müssen, Vati«, sagte Madeleine und holte ein blaues Taschenbuch aus ihrer Strandtasche hervor. »Er ist so sterbenslangweilig!«
»Du wolltest den Deutsch-Leistungskurs wählen«, erinnerte ihr Vater sie, »und ich habe dich gewarnt, dass da viel Lektüre auf dich zukommen wird.«
»Schon, aber über die Ferien…?«
»Ja, auch das. Es sind eh nur Pfingstferien. Und meckere nicht über den Roman, das ist ›Kleiner Mann – was nun?‹ von Fallada, den kann man wirklich gelesen haben. Wurde der Roman nicht sogar hier geschrieben?«
Er wandte sich ans Komitee, welches jedoch ratlos die Schultern hob und senkte.
»Nicht ganz«, wusste die Witwe Appelhoff. »Auf Hiddensee.«
»Nahe genug«, meinte Herr Schmidt. »Also kannst du das Buch in einer Umgebung studieren, die fast genau jener entspricht, wo es entstand. Toll, nicht wahr?«
Madeleine hatte für den Enthusiasmus ihres Vaters nur ein verächtliches Stöhnen übrig, woraufhin jener dem Rest der Anwesenden ein entschuldigendes »Teenager eben« zuwarf.
Mittlerweile hatte Anke Schubiak ihren zwei neuen Gästen die Zimmerschlüssel in die Hand gedrückt, Mattis hinzugerufen und ihn gebeten, das Gepäck des Komitees nach oben zu bringen.
»Wenn Sie sich frisch gemacht haben, werden Frau Appelhoff und ich Ihnen gern die nähere Umgebung zeigen und vielleicht schon eventuelle Programmvorschläge näher besprechen«, sagte sie und das Komitee war einverstanden.
Als der »hohe Besuch« sich entfernt hatte, atmete Anke Schubiak hörbar auf und drückte die Witwe Appelhoff an sich.
»Ich glaube, wir haben einen positiven ersten Eindruck auf sie gemacht!«
»Und dein Sohn scheint einen positiven Eindruck auf dieses junge Fräulein gemacht zu haben«, lächelte ihre Freundin belustigt und deutete auf Madeleine, die sich in eine Ecke gesetzt hatte und gelangweilt in ihrem blauen Taschenbuch blätterte.
»Was meinst du?«, fragte Anke Schubiak.
»Hast du den Blick nicht bemerkt, den sie Mattis zuwarf? Dein Sohn hat ihn jedenfalls kapiert, so rot, wie er anlief. Die Lütte scheint sich verguckt zu haben.«
Die Herbergsmutter zuckte desinteressiert mit den Achseln. Sie war nicht in der Verfassung, auf Flirtversuche junger Leute zu achten, wo es doch um die Zukunft ihrer Einrichtung ging. Um den gelungenen Ersteindruck beim Komitee zu festigen, holte sie die drei besten Fahrräder, die sie besaß, aus dem Keller packte kleine Getränkeflaschen und etwas Obst in einen Korb und lud Frau Staudt und Herrn Bunsen, sobald sie wieder aufgetaucht waren, zu einer Radpartie ein. Bewaffnet mit ihren Papierbögen schloss sich die Witwe Appelhoff an.
Sie fuhren durch Friedershagen, vorbei an mehreren Landhäusern (nicht alle so geräumig wie das Appelhoff’sche Anwesen), deren Fassaden mit buntbemalten Fensterläden verziert waren. Ihre Reetdächer erinnerten an die Zeit, als noch viele Seefahrer und Kapitänsfamilien darin wohnten. Anke Schubiak stellte während der Fahrt ihre Einfälle für mögliche Ausflüge des Heibideu vor.
»Unsere Kirche ist aus Kohlebrand-Backstein gebaut und manche unserer Häuser in Friedershagen stammen aus der Gründerzeit«, erzählte sie. »All diese Bauten sind für Reisegruppen reiferer Jahrgänge sehenswert, die sich für Architektur interessieren. Daneben wollen wir aber auch die geographischen und biologischen Besonderheiten integrieren, die wir hier mit Bodden und Ostsee direkt vor der Haustür vorfinden. Nicht wahr, Lotte?«
Die Witwe Appelhoff reagierte nicht, denn sie musste die ganze Zeit über an die Warnung der pinkfarbenen Urlauberin denken. Sie fragte sich, was an ihren Worten dran gewesen sein könnte. Im Gespräch über Hans Fallada hatte sie den Eindruck gewonnen, dass irgendwas nicht stimmte. War es die Tatsache, dass keiner vom Wirken des Schriftstellers auf Hiddensee gewusst hatte? Müsste einem Experten für Bildung und Heimatkunde so etwas nicht geläufig sein? Andererseits: Wieso sollten sich zwei Leute ausgerechnet als Heibideu-Komitee ausgeben? Was könnten sie damit bezwecken?
Als Herr Bunsen merkte, dass von seiner gedankenverlorenen Begleitung keine Antwort zu erwarten war, sagte er freundlich an ihrer Stelle:
»Ich finde, dass Ihre Jugendherberge eine vorzügliche Lage aufweist. Chancen für Erholung und Erforschung liegen selten so nahe beieinander wie hier. Nicht wahr, Frau Staudt?«
Letztgenannte, obgleich sie als die körperlich Fitteste erschien, hechelte unbeholfen hinterdrein, da sie schon lange keine Fahrradtouren mehr gemacht hatte. Dennoch war ihre Laune ungetrübt und sie stimmte ihrem Vereinskollegen zu:
»Vor und nach den Lerneinheiten und Forschungsstudien können die Schüler ohne verkehrstechnischen Aufwand zum Strand gelangen, um sich dort körperlich zu ertüchtigen. Das passt sehr gut zum Heibideu. Langsam wird es aber Zeit, dass wir zurückkehren und einen Blick über Frau Appelhoffs Verschriftlichungen werfen, meinen Sie nicht auch?«
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