»Ach, Lorenz«, tröstete ihn Peer Hövelmeyer. »Es werden schon andere junge Dinger kommen und dir das Make-up abkaufen.«
»Und die können sich dann hoffentlich besser schminken«, lästerte Frau Kröger. »Meine Schwägerin hat sie ja vor der abrupten Abreise noch getroffen und mir anvertraut, dass das Kind seine Pubertätspickel regelrecht mit Stolz vor sich her trüge. Tse! Zu meiner Zeit hat man noch gewusst, was ein Abdeckstift ist.«
»Weiß denn jemand, wohin die Schmidts abgereist sind?«, fragte die Witwe Appelhoff.
»Nicht offiziell«, sagte Frau Kröger und zögerte. »Mir war, als ob der Vater was vom Seebad-Hotel in sein Navi gesprochen hat. Ich stand putzend am Fenster und es stand offen, sodass mir nix anderes übrig blieb, als zuzuhören.«
»Da müssten die Ansprüche aber rasant nach oben gesprungen sein, wenn man von rustikaler Jugendherberge gleich zum mondänen Seebad-Hotel wechselt«, bemerkte Beck. »Du wirst dich wahrscheinlich verhört haben.«
Die Witwe Appelhoff merkte sich all diese Informationen, bezahlte ihr Rätselheft und radelte schnurstracks zur Jugendherberge. Sie fand eine bleiche Anke Schubiak an der Rezeption vor, die zu keinem Lächeln fähig war.
»Ach, Lotte«, seufzte sie, »wenn ich nur wüsste, was den Herrschaften missfallen hat! Die Tochter schwieg sich aus und der Vater fluchte unentwegt. Mattis weiß vielleicht Bescheid, aber ich finde ihn nirgends.« Ihre Hände zitterten vor Aufregung. »Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht haben sollte!«
Die Witwe Appelhoff störte sich an Ankes zunehmender Unsicherheit, die vor den Gästen ein schlechtes Bild abgab. Kurzerhand übernahm sie die Führung: Der Herbergsmutter wurde verordnet, die leeren Zimmer der Schmidts zu säubern sowie anschließend Sönke wegen der Mittags- und Abendspeisung zu instruieren, und die Witwe Appelhoff wollte selbst die Rezeption betreuen, bis sich Mattis einfinden würde. Auch um das Komitee wollte sie sich kümmern.
»Wir lassen uns von den Launen der Schmidts nicht unterkriegen«, stellte sie fest. »Wenn du erst einmal Mitglied im Heibideu bist – und das wirst du bald – wird der heutige Stress vergessen sein.«
Anke ließ sich von ihrer energischen Freundin überzeugen, lud Wischeimer und Scheuerlappen auf den Wäschekorb und machte sich damit auf zu den Zimmern. Der Empfangsbereich der Jugendherberge war nun leer und still. Die Witwe Appelhoff nutzte die Gunst der Stunde und nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Wollen doch mal sehen, ob Frau Krögers Ohren sie nun getäuscht haben oder nicht«, murmelte sie bei sich, wählte die Nummer des Seebad-Hotels und fragte, sobald sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung meldete, nach Herrn und Fräulein Schmidt.
»Sie haben ein Gepäckstück bei uns gelassen, das wir ihnen gern nachschicken würden«, log sie. »Sie müssten erst kürzlich eingetroffen sein.«
»Ich bedaure, wir haben heute noch keine Neuankömmlinge empfangen«, sagte die freundliche Stimme, »und wir erwarten auch keine Gäste dieses Namens.«
»Würden Sie es Ihnen ausrichten, sobald sie bei Ihnen ankommen?«
»Das wird kaum möglich sein. Wir sind zurzeit ausgebucht und haben diesbezüglich ein Schild vor der Einfahrt. Familie Schmidt wird sich gewiss nicht die Mühe machen, trotzdem bei uns vorzusprechen.«
Die Witwe Appelhoff bedankte sich für das Gespräch, legte auf und ärgerte sich, denn zu gern hätte sie herausgefunden, was es mit der Szene zwischen Vater und Tochter auf sich gehabt hatte. In ihren Augen war es ungeheuer rücksichtslos von den beiden gewesen, ihren Zwist in Anwesenheit des Komitees auszutragen, wo sie doch wussten, wie wichtig ein guter Gesamteindruck für die Jugendherberge war.
»Wenn ich diesen Schmidt wenigstens erreichen könnte! Mit etwas Überredung meinerseits sieht er bestimmt ein, dass er uns eine Erklärung schuldig ist.«
Herr Bunsen kam an die Rezeption, grüßte kurz und sprach mit ernster Miene:
»Wegen des Lärms habe ich heute Nacht kaum ein Auge zugetan. Den Besuch bei Ihnen werde ich nicht wahrnehmen können, denn ich bin mit der Suche nach einer Apotheke schon genug beschäftigt.«
»Was für Lärm denn?«, erkundigte sich die Witwe Appelhoff scheinheilig. »Ich dachte, die unangenehme Szene zwischen Vater und Tochter spielte sich heute Morgen ab, als alle schon auf den Beinen waren?«
»Mitnichten! Gestern Abend – nach Beginn der Nachtruhe – gab es einen Eklat zwischen den beiden, dem wir alle unangenehmerweise beiwohnen mussten. Selbst danach tat ich kein Auge zu. Die junge Frau heulte in ihrem Zimmer, der Mann trottete auf und ab. Wie soll man da schlafen?«
Die Witwe Appelhoff linste ins Gästebuch der Herberge und stellte fest, dass das Komitee nicht im selben Stockwerk wie die Schmidts untergebracht war. Als sie Herrn Bunsen darauf ansprach, antwortete der:
»Eben drum habe ich ja nicht schlafen können. Mein Zimmer liegt genau über dem dieser merkwürdigen Familie. Ein Glück, dass sie weg sind. Dennoch wäre es mir lieber, mit einem Schlafmittel für die kommende Nacht gewappnet zu sein. Man weiß ja nicht, ob noch unliebsamere Gestalten anreisen.«
»Eine Apotheke werden Sie in Friedershagen nicht finden«, bedauerte die Witwe Appelhoff. »Da müssten Sie den Nachbarort aufsuchen. Einfach durchs Wäldchen Richtung Westen. Eine schöne Wanderstrecke übrigens.«
Herr Bunsen wollte lieber das Auto nehmen, verließ die Herberge und Ruhe kehrte ein. Die Witwe Appelhoff wunderte sich über seine Lärmempfindlichkeit, denn als regelmäßigen Besucher von Jugendherbergen hätte sie ihm ein dickeres Fell zugetraut.
»Andernorts wird die Nachtruhe viel häufiger gestört als in diesem Haus«, murmelte sie zu sich selbst. »Wenn ganze Abschlussklassen eine Schulfahrt unternehmen, werden Nachtruhezeiten doch meist als bedeutungslos abgetan. Das wüsste er, wenn er regelmäßig Herbergen besichtigt und die Jugend kennt.«
Die Witwe Appelhoff kannte die Jugend nämlich. Aber Herr Bunsen vielleicht nicht so gut, wie er sollte? Das kleine Wörtchen »wenn« blieb in ihrem Kopf hängen und erinnerte sie an das, was die Frau in Pink gesagt hatte. Möglicherweise war Herr Bunsen gar nicht Mitglied vom Heibideu und gab sich nur als solches aus? Seine Unkenntnis über den Herbergsalltag würde erklären, warum er so unvorbereitet auf nächtlichen Lärm reagierte. Und nachdem die Witwe Appelhoff ihn gestern beim Abendessen beobachtet hatte, fiel ihr auch ein Motiv für einen solchen Betrug ein.
»Der schaufelt Sönkes bestes Essen in sich rein, weil er als angebliches Vereinsmitglied nichts bezahlen muss! Am Ende sind seine Begleitung und er Schmarotzer, die sich auf diese Weise durch zig Etablissements schnorren! Na, dem werde ich auf die Spur kommen.«
Sie schaltete ihr Smartphone ein, surfte durchs Internet und fand die Website des Heimatlichen Bildungsreisen Deutschland e.V., wo beinahe alle Mitglieder des Vorstandes aufgelistet und mit Foto vorgestellt wurden. Nur von Frau Staudt und Herrn Bunsen gab es kein Bild, was den Verdacht gegen sie erhärtete.
Schon wollte die Witwe Appelhoff aufspringen und die vermeintliche Betrügerin zur Rede stellen, als auf dem Display des Telefons eben jene Nummer aufleuchtete, die sie vorhin selbst gewählt hatte. Gewiss meldete sich das Seebad-Hotel, um von den Schmidts zu berichten. Doch als sie den Hörer abnahm, herrschte sie eine dunkle Stimme an:
»Mattis Schubiak?«
»Nein, hier ist…«
»Richten Sie Mattis Schubiak aus, er soll sich umgehend melden. Er weiß Bescheid.«
»Aber bei wem denn? Worum geht es überhaupt?«
»Geht Sie nichts an. Er weiß Bescheid.«
Und der Anrufer am anderen Ende der Leitung legte auf. Die Witwe Appelhoff hätte schwören können, dass es Schmidt war, der da gesprochen hatte. Aber ohne seine gute Laune klang er rabiat und bedrohlich. Zudem schien Ankes Sohn in der Angelegenheit irgendeine Rolle zu spielen, und der Umstand, dass er immer noch nicht aufgetaucht war, irritierte die Witwe Appelhoff sehr.
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