»Heini, was ist?«, antwortete Florian merklich gestört und in einem pampigen Ton.
»Sag nicht immer Heini zu mir, ich bin Dein Vater!«, platzte Heinrich wütend heraus. Einige Passanten in der Einkaufspassage drehten sich verwundert nach ihm um. Er erhöhte das Schritttempo, denn seine Unbeherrschtheit war ihm peinlich und er wollte nicht erkannt werden. Papa, und nicht Mama, war das erste Wort, das Florian zu sprechen gelernt hatte. Heinrich hatte sich wie ein König gefühlt. Mit 'Paps' musste er sich abfinden, als Florian aus dem Kindergarten kam und eingeschult wurde. Als Achtklässler, nach dem Landschulheim, hörte er Florian Heinrich zu ihm sagen. Seitdem blieb ihm nur noch übrig, die schleichende Entfremdung zwischen Vater und Sohn hinzunehmen. Seit einigen Monaten ließ Florian ihn deutlich spüren, dass er ihn wirklich für einen Heini hielt.
»Hat Deine Mutter sich bei Dir gemeldet?«, fragte Heinrich ungeduldig, nachdem er sich etwas gefasst hatte.
»Ja, vorgestern. Warum?«, entgegnete Florian ungerührt. Heinrich gab seinem Sohn keine Antwort und beendete das Gespräch, indem er das Gerät ausschaltete. Beinahe hätte er es vor Wut in den nächsten Abfalleimer geworfen. Gleich würde er auf die Knie fallen und auf der Bank um den Kredit zu betteln haben.
Missmutig saß Heinrich in einem Besprechungszimmer der Bank. Sein Finanzberater hatte sich bereits auf den Weg in die Mittagspause begeben, obwohl er gerade noch pünktlich zum verabredeten Termin erschienen war. Die heftige Beschwerde beim Filialleiter zeigte Wirkung und ein Auszubildender im Clownskostüm wurde dem Mitarbeiter hinterhergeschickt, um ihn zurückzuholen. Ein anderer, als Biene Maya verkleidet, servierte ihm eine Tasse Kaffee. Nach einer Weile erschien der Mitarbeiter und übertraf Heinrich an Übellaunigkeit. Er holte die Antragsunterlagen hervor und warf sie lustlos auf den Schreibtisch.
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Kreditantrag ablehnen werden«, erklärte der Berater nüchtern. Für ihn war das Beratungsgespräch damit abgeschlossen.
»Ich verstehe nicht!«, haderte Heinrich, »Sie sagten doch, dass meine Chancen nicht schlecht stünden. Bitte berücksichtigen Sie, dass meine Frau bald mit einem eigenen und sicheren Einkommen dazu beisteuern kann, den Kredit zu bedienen.« Heinrich log. Die Zusage für die Stelle hatte Marlene offenbar noch nicht erhalten. Andernfalls hätte sie ihn sofort angerufen. Falls sie bald über ein eigenes Einkommen verfügte, wollte sie gewiss nichts zu der Renovierung beisteuern, denn von Anfang an war sie dagegen.
»Mögliche Finanzierungsleistungen Ihrer Frau sind leider nicht die entscheidenden Kriterien, nach denen wir uns richten«, antwortete der Finanzberater kalt. »Wir haben inzwischen das Gutachten erhalten. Das Objekt ist nicht viel wert. Selbst das Grundstück taugt nicht als Sicherheit für einen Hypothekenkredit. Es ist zu klein, zur Hälfte von einem Friedhof umgeben und grenzt mit einem Viertel an ein Sumpfgebiet. Für einen erweiterten Neubau würde auch auf lange Sicht keine Baugenehmigung erteilt werden.« Der Bankangestellte schüttelte verständnislos mit dem Kopf. »Wie konnten Sie sich nur auf ein solches Objekt eingelassen haben? Das werden Sie niemals wieder los!«
Heinrich dachte nicht daran, seine Erwerbung jemals abzugeben. Gerade deshalb brauchte er dringend den Hypothekenkredit mit einem günstigen Zinssatz.
»Ich bin ein langjähriger Kunde dieser Bank. Was hielten Sie davon, wenn ich mich zukünftig für ein anderes, zuvorkommenderes Institut entscheiden würde«, drohte Heinrich angespannt. Schließlich warb die Bank damit, dass bei ihr der Kunde König sei. Er wollte sehen, was geschähe, wenn er laut darüber nachdachte, einem anderen Geldinstitut seine königliche Gunst zu schenken. Der Berater blieb unbeeindruckt und lachte ihn aus:
»Ein solches müssten Sie zunächst einmal finden. Keine Bank wird Ihnen für diese Ruine ein Hypothekendarlehen anbieten. Wie bei uns bekämen Sie auch an anderer Stelle nur einen marktüblichen Privatkredit mit höherem Zinssatz. Wir können Ihnen hierfür ein gutes Angebot unterbreiten und das Darlehen auf Ihre Bedürfnisse zuschneiden. Zumal Ihre Frau bald dazuverdienen wird, sollten Sie den Privatkredit ebenso anstandslos bedienen können wie ein Hypothekendarlehen.« Der Finanzberater schlug einen freundlicheren Ton an, denn er witterte einen einträglichen Abschluss, bei dem er Heinrich als Bankkunden nicht verlöre. Nichtsdestoweniger hatte er ihn als König soeben gestürzt. »Sie sind Beamter. Wir wissen Ihre sichere und berechenbare Einkommenslage durchaus zu schätzen«, endete der Berater überlegen und wies ihn zum Ausgang. Beim Hinausgehen zögerte Heinrich, denn er musste eine Entscheidung treffen. Letztendlich wäre er vor dem Berater auch auf die Knie gesunken.
Heinrich schlich auf demselben Weg in das Präsidiumsgebäude hinein, auf dem er es verlassen hatte. Im Foyer gesellte er sich zu seinen Kollegen. Jedoch dachte er nicht daran, mit ihnen in der Kantine zu Mittag zu essen. Der Appetit war ihm vergangen. Was für ein Narr war er gewesen. Er hatte den Kreditvertrag unterschrieben. Zinslast und Tilgung nähmen ihm für die kommenden Jahre jeden Spielraum. Wie lange noch würde sein alter Mercedes halten? Weite und häufige Wege standen dem Fahrzeug bevor. Eine Neuanschaffung musste er sich auf absehbare Zeit aus dem Kopf schlagen. Sollte er am Nachmittag versuchen, den Vertrag zu widerrufen? Schließlich war es Rosenmontag und deshalb ein Tag, an dem auch die größten Dummheiten verzeihlich schienen. Dann allerdings konnte jeder daher kommen und um Vergebung bitten. Wo er sich umblickte, sah Heinrich nur Narren. Eine Narrheit bedeutete es, am Nachmittag Ottmar von Mannwitz zum Regierungsrat zu ernennen. Im Zweijahresrhythmus würde dieser Versager fortan befördert werden und die Karriereleiter hinauffallen. Millionenschwere Bauprojekte, für die der Jungbeamte unweigerlich zum Hemmschuh zu werden drohte, warteten auf ihn. Menschen, die über von Mannwitz wachten, mussten wohl um ihre Fehlentscheidung wissen. Nur an einem Rosenmontag durften sie ungestraft einen Untauglichen wie ihn in ihren Kreis aufnehmen. Die sichere Erkenntnis, von keiner Gunst bevorteilt worden zu sein, tröstete Heinrich, während er unschlüssig vor einem Getränkeautomaten stand. Schließlich überwand er seine Abneigung gegen lauwarmen und zu dünnen Kaffee. Mit einem halb vollen Becher bestieg er einen bereits überfüllten Aufzug. Einer fragte ihn, ob er auch zum Rosenmontagsfest käme. Mit einem nur kurzen und wortlosen Nicken bestätigte Heinrich seine Teilnahme, weil von wollen nicht die Rede sein konnte. Er durfte nicht fehlen. Andernfalls würde noch mehr über ihn geredet werden. Er ahnte, dass hinter seinem Rücken heftig und bösartig über ihn gespottet wurde. Nun war es Rosenmontag. Jemand im Aufzug wagte sich offen vor, ihn vor den Kollegen ins Lächerliche zu ziehen.
»Als was verkleiden Sie sich?«, fragte er scheinheilig und schob gleich darauf einen als Witz gemeinten Vorschlag nach: »Wie wäre es als Mönch oder als schwarzer Abt?«
»Als Glöckner von Notre Dame«, witzelte ein anderer, den Heinrich im dichten Gedränge nicht ausmachen konnte.
»Als Leuchtturmwärter!«, rief ein weiterer dazwischen. Alle bogen sich vor Lachen. Heinrich wandte sich ab und stand wie erstarrt vor der Kabinentür in der Hoffnung, der Aufzug erreichte schneller als sonst das Stockwerk seines Büros.
»Halt, halt!«, tat sich ein Naseweis hervor, »vergesst nicht die Kleiderordnung! Am Rosenmontag darf niemand als das kommen, was er ist. Unser Oberregierungsrat Beck wird daher in einer völlig anderen Verkleidung erscheinen, die mit allem, das er sonst noch ist, nichts gemein hat!« Ein neidvoller und giftiger Unterton in der Bemerkung des Kollegen rief im Gedränge zunächst beipflichtendes Gemurmel hervor. Danach herrschte bedrückende Stille. Aus Ärger über den unverhohlenen Spott schluckte Heinrich so laut, dass alle mithörten. Sollen sie doch lästern, redete er sich ein und entschloss sich, Rosenmontagsfeierlichkeiten ab kommendem Jahr für immer zu meiden.
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