Belinda Cannone
Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Tobias Scheffel
Le monde est ma provocation.
(Gaston Bachelard, L’Eau et les Rêves )
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Über den Autor
Heiseres Stöhnen erreicht sie vom Wäldchen, von der anderen Seite des Hauses oder des weiter entfernt liegenden Nachbarhauses. Ihr Ohr kann die Entfernungen nicht gut abschätzen. Verschreckt wirft sie sich in ein Gebüsch, bleibt mit dem Kleid in den Dornen hängen, wo es reißt, und unter ihr wuseln ein paar Insekten davon, sie unterdrückt eine Regung des Abscheus: Da die Anwesenheit der Viecher unmöglich zu ignorieren ist, muss sie sich wohl an sie gewöhnen. Aus dem Stöhnen glaubt sie Angst herauszuhören. Und ein Klagen, voller Schmerz. Fühlt sich da jemand verlassen? Sie kann zu ihm (oder ihr) gehen, um ihn zu trösten, aber wenn sie das tut, begibt sie sich womöglich in dieselbe Situation wie er (oder sie), in die Situation, die das Stöhnen verursacht hat. In Schwierigkeiten. Sie ist klein. Links, unter einem Strauch, wilde Mäuseflucht. Schließlich nimmt sie an, dass die Klage von weiter weg kommt und vorerst keinerlei Bedrohung für sie darstellt. Also nachsehen. Das Kleid durch Hin- und Herzerren befreien (den Riss verschlimmern) und sich der Geräuschquelle auf Zehenspitzen nähern (ihre Schritte dröhnen wie Hammerschläge auf dem Erdboden: An der Leichtigkeit muss noch gearbeitet werden). Vor dieser Alternative stand sie schon früher: den Kopf zwischen die Arme ducken, um nichts zu sehen, oder doch besser auf die Dinge zugehen, sich selbst ein Bild machen. Das Stöhnen, das wieder eingesetzt hat, macht den Weg unheimlich, die Bäume sind größer, die Stämme verbergen Wesen, Ameisenhaufen brummen, Vogelrufe durchbohren die Trommelfelle, ein Zweig, der krachend unter dem Schuh bricht, lässt aufschrecken, Tiere flüchten Richtung Dickicht. Im Nachbarhaus hört sie, wie die Mutter zur Tochter sagt, sie solle ihr Zimmer aufräumen, und wie im Obergeschoss das Radio den Seewetterbericht verkündet. Nach etwa hundert Metern bricht der Klagelaut ab: Ohne Zweifel hat man mitbekommen, dass sie sich nähert.
Mehr denn je wünscht sie sich jetzt, leise zu sein, wie ein Indianer oder eine Katze gehen zu können, nur ein wenig die Luft zu zerknittern und sich wie auf Lederballen fortzubewegen (aber diese groben Schuhe), den anderen zu hören, ohne selbst gehört zu werden, den anderen, der jetzt unaufhörlich stöhnt, sicher vor Angst oder um zu rufen. Jeanne erfasst jede einzelne Modulation und wird von einem Schwindel gepackt, der sie mit einem Satz zu deren Quelle schleudert. Der Anblick der hingemetzelten Fuchswelpen ist so grauenvoll, dass sie sich übergibt.
Sie erinnert sich an die Worte der Bauern, Der Fuchs ist ein Schädling , an den Protest ihres Vaters, Das ist ein Hühnerstandpunkt! , an den weit zurückliegenden Tag, als sie die Bedeutung von Standpunkt gelernt hat, an die Art und Weise, wie der Vater ihr Wörter beibringt – sie mag noch so sehr versuchen, ihre Gedanken von dem Bild abzulenken, es ist einfach da. Noch einmal sieht sie hin und wieder muss sie sich ein bisschen übergeben.
Drei mit kleinen Fuchsschwänzen wedelnde Kinder tauchen lachend aus dem Dickicht auf und machen sich über sie lustig, sie flieht.
Der Lärm ihrer trampelnden Schritte hallt in ihrem Kopf wie in einem Bottich. Sie rennt mit gleichmäßigem Rhythmus, durchquert das Wäldchen, läuft auf den nächsten Weiler zu, von Zeit zu Zeit peitscht ein Zweig ihren Arm, sie spürt nichts, überspringt Büsche und Steine, ihre Waden durchschneiden die Luft. Sie weiß nicht, wie sie es stoppen kann, ihr irres Rennen geradewegs ins Nirgendwo.
Ihr irres Rennen geradewegs ins Nirgendwo hat sie zu ihm geführt, der vor seiner Tür in der Sonne faulenzte, die Augen geschlossen – seit dem Erwachen der Eindruck, ein wässriger Film bedecke die Welt, da kann man auch gleich nach innen schauen –, und neugierig auf die kleinen, hastig näherkommenden Schritte lauschte.
Mit verstörter Miene hatte sie den Weiler erreicht, und als sie an seinem Haus vorbeilief, hat er sie gestoppt. Erstaunliche Intuition, wundersamer Zufall, es ist, als hätte sie ihn, Jodel, gesucht. Er musste sie sanft am Arm festhalten, ihre Beine wollten weiter ins Leere treten – schließlich sank sie vor ihm zusammen.
An diesem Tag ihrer ersten Begegnung haben sie nur von den Fuchswelpen gesprochen. Sie hat ihm die Szene in allen Einzelheiten geschildert. Er war erstaunt über ihre Genauigkeit und Klarheit. Sie sagte Zum ersten Mal tut mir etwas weh, das nicht mir passiert ist . Sie suchte in seinem Blick zu erkennen, ob er sie richtig verstand, und er mochte ihre großen fragenden und besorgten Augen. Sie überlegten gemeinsam. Die Verantwortlichen waren Kinder, also Ihresgleichen, und deshalb ging ihr die Verletzung so nahe. Keine Erwachsenen oder gar Bauern, die einen Grund gehabt haben könnten, was immer der auch wert gewesen wäre. Nein. Ein willkürlicher Akt. Begangen von Ihresgleichen. Es war also tatsächlich ihr passiert, irgendwo in ihr.
Jeanne gefiel ihm sehr, so mager und wach. Mit gespitzten Ohren. Ein kleines Paket aus Muskeln und Energie. Von Zeit zu Zeit schluchzte sie, dann beruhigte sie sich wieder. Sie war vielleicht elf oder zwölf.
Erst als Jeanne zwei Tage später wiederkam, begriffen sie. Sie trank ein Glas Mandelmilch vor seiner Tür, sagte ein bisschen beunruhigt Da weint ein Baby und deutete in eine Richtung. Er antwortete Ja, das ist Joseph . Dann, ein paar Sekunden später wurde ihm bewusst, dass er stets der Einzige gewesen war, der Joseph in einem dreihundert Meter weit entfernten Haus weinen hören konnte. Wundersamer Zufall, bemerkenswerte Intuition, war eine kleine weibliche und kindliche Doppelgängerin zu ihm gelangt, um sein Leid zu teilen?
Vorsichtig befragte er Jeanne: Ob sie gut höre? Oh, sehr gut. Ob sie besser höre als andere? Ja, den Eindruck habe sie ständig, Aber ich habe mir angewöhnt, nichts zu sagen, die Leute glauben mir nicht oder sehen mich komisch an, ich bin immer die Erste, die warnt, wenn ein Kind weint . Und Insekten, kleine Tiere? Ja, sie höre alles, alles, aber ein bisschen durcheinander. Er wischte sich eine kleine Träne von der Wange. Jeanne ging das nicht so nahe: So jung, ahnte sie nicht, wie selten Menschen ihrer Art waren.
Seitdem kommt sie täglich am späten Nachmittag. Verbundenheit von Versehrten. Sie besucht ihn nach der Schule, mit ihrem lebhaften Gang eines Nymphenkindes, er macht ihr eine Mandelmilch, und sie reden über ihren Tag. Nie mehr über die Fuchswelpen. Um die Geräusche, die sie belästigen, zu zähmen, bringt er ihr bei, das Pochen der Ameisenkolonnen zu mögen, ihre vielfältigen, ruckartigen Schritte, die ganz sacht sind und ganz fern, den langsamen Gang der Skarabäen, so schwer, dass man selbst einen einzelnen auf der Straße laufen hört, und das Zischen der Nattern, fein wie ein Lüftchen im Laubwerk. Aber die Geräusche vermischen sich: Sie muss lernen, die Feldtiefe zu berücksichtigen, den Abstand zwischen den einzelnen Geräuschen zu bestimmen und sich erst auf das eine und dann auf das andere zu konzentrieren. Viel Arbeit. Und das braucht Zeit. Er hat Zeit. Sie ist so klein.
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