Auf ihren Hörsitzen (wie Dryaden) machen sie sich an die Arbeit. Heute werden sie lauschen, ohne zu sehen.
— Umso besser. Ich höre lieber, erklärt sie. Du nicht?
— Manche Sachen tun beim Hören weh.
— Aber gibt es nicht mehr Sachen … (sie zögert) … Sachen, die du lieber nie gesehen hättest?
Er geht zu ihr.
— Ich weiß, woran du denkst, antwortet er und drückt ihre Hand.
— Sag es nicht! (Ein kurzes Schluchzen in ihrer Stimme.)
— Nein, ich sage es nicht.
Dann legt sie los, im Eiltempo (das kennt er: ihre Art abzulenken) sagt sie, dass es, o ja, viele Probleme mit dem gibt, was man sieht, natürlich beunruhigt sie alles, was sie hört, ohne es zu verstehen oder zu unterscheiden, alles, was ständig ihre Ohren überflutet, aber das, was die Augen einfangen, ist noch schlimmer. Er stimmt zu, was man sieht, macht oft weniger Angst, tut aber mehr weh. Sie fährt fort, Na gut, natürlich höre ich die meiste Zeit zu viel. Sogar der Gang in den Wald ist nicht so einfach. Dieser gewaltige, gewaltige Lärm, all die Geräusche, wie ein zu süßer Kuchen. Als ich klein war, habe ich mal Zucker auf mein Marmeladenbrot gestreut, um den Genuss noch zu verstärken. Das war eklig.
Während Jodel zu seinem Hörsitz zurückgeht, zieht sie ihr Kleid zurecht, das unter ihrem Po knittert, und verkündet, wie froh sie sei, dass ihre Füße nicht den Boden berühren, auch wenn seiner Meinung nach kein Tier in diesem Wald ihr Böses tun könne, nur, wenn du Pech hast und sehr selten, die Vipern.
— Da!, ruft sie, ich höre deinen Grünspecht da hinten.
— Aber jetzt wirst du hören, ohne zu schauen, mach die Augen ganz fest zu.
Zuerst sagt sie, dass der Eindruck von Durcheinander noch stärker wird, weil sie jetzt besser hört.
— Nein, nicht besser, ich höre mehr, viel mehr, aber alles wie ein riesiger Brei. Du hast gesagt, man kann die Geräusche in Gruppen unterteilen um … Einheiten zu bilden. Wie macht man das?
— Konzentrier dich auf ein paar. Was erkennst du?
— Zwei kleine Geräusche rechts, die zum selben großen Geräusch gehören müssen – vielleicht ein Insekt, das seine Fühler reibt? Aber das ist so durcheinander!
— Kümmere dich nur um die Vögel.
— Es sind zu viele!
— Sag mir einfach, was du hörst.
— Da, ein … ein Knacken … Hier ein … Jodel! Ich habe nicht genug Wörter für die ganzen Geräusche.
— Das stimmt. Ich übrigens auch nicht, ehrlich gesagt. Aber man muss sie trotzdem zähmen, auch ohne sie zu benennen. Wie machen wir das?
Er steht von seinem Stumpf auf und läuft im Kreis. Aus dem Augenwinkel sieht er sie schmollen, sich ärgern: Sie möchte nicht enttäuschen.
— Ich verstehe meinen Vater so gut! Er will mir ständig neue Wörter beibringen.
— Wir müssen eine Methode finden.
Plötzlich hüpft sie von ihrem Hörsitz und zeigt auf junge Brombeerranken, die quer über den Weg wachsen: Hör mal! Man hört sie wachsen! Sie kriechen über den Boden, sie rascheln ganz leise …
— Nein! Sie rascheln?
— Ja doch!
Jodel ist verblüfft: Das ist unglaublich … ich … ich höre sie nicht. Dein Ohr ist noch viel entwickelter als meins … Erzähl weiter …
— Na ja, sie … sie streicheln die Erde, (sie kneift die Augen zusammen) sie klammern sich ein bisschen fest, weißt du, (ihre Finger kratzen die Luft) krüsch, krüsch …
Jodel geht mit dem Ohr nah an eine Ranke, schüttelt den Kopf, dann sagt er Daran hatte ich nicht gedacht, ich hatte mir nicht vorgestellt, dass du viel besser hörst als ich, wie blöd …
Er sieht so enttäuscht aus, dass sie lachen muss: Das war ein Witz!
— Äffchen!
— Natürlich höre ich sie nicht.
Sie bringt den Kopf ganz nah an eine Ranke, dann sieht sie ihn verlegen an: Wobei … ich höre sie nicht deutlich. Dann besinnt sie sich: Ein Witz, ein Witz!
So wird Jodel daran erinnert – er könnte es manchmal vergessen –, dass sie ein Kind ist.
— Also, ich möchte dich nicht verletzen, sagt sie, aber wenn ich ganz dicht bei dem Trieb bin, höre ich ihn über die Erde kratzen, ganz weit weg, aber … ich höre etwas. Ärgert dich das?
— Überhaupt nicht. Es ist sehr gut möglich, dass du besser hörst als ich. Wir werden es überprüfen. Jetzt lass erstmal dein Gehirn die große, verschwommene Vibration des Waldes entschlüsseln.
— Mein Gehör, meinst du.
— Nein, es ist dein Gehirn, das sortiert und interpretiert. Dein Ohr ist nur ein Auffangbecken. Und wenn du gleichzeitig schaust, kann dir das helfen, aber das ist nicht das Wichtigste.
Sie rennt zu einer gewaltigen Eiche. Sie weiß genau, dass sie sich alles trauen kann, weil er ihr mit den Augen folgt. Sonst hätte sie zu große Angst. Er beobachtet sie nachdenklich. Besorgt.
— Natürlich hindert dich nichts daran, mich anzulügen. Da ich nicht überprüfen kann, was du hörst oder nicht hörst, kannst du mir jeden Blödsinn erzählen, sogar, dass du die Brombeerranken wachsen hörst. Aber das macht alles kompliziert, verstehst du? Das zerstört unser Vertrauen.
— Ja, aber das ist auch superlustig!
Auf dem Rückweg erzählt sie ihm, wie lecker junge Ranken schmecken. Früher, als sie klein war, dachte sie, die Ranken wären böse, dornig und aggressiv. Dann lernte sie eine niedliche Ziege kennen, die mit Genuss alle Triebe fraß, die ihr in die Quere kamen, und sie begriff, wie lecker das ist – für die Ziege.
Das meiste steht ihm noch bevor, bei einem Kind wird es immer Dinge geben, die er nur schwer versteht, zum Beispiel ihre Vorstellung davon, wie junge Ranken für die Ziegen schmecken müssen. Es ist schwierig, wirklich zu verstehen, was Verstehen heißt.
Es ist schwierig, wirklich zu verstehen, was Verstehen heißt, warum er sein Alleinsein jetzt so gut hinnimmt, wo doch über Jahre hinweg jeder Gedanke, jedes Begehren von Zélie besetzt – überschwemmt – war. Jeden Abend kommt er allein nach Hause und ist kaum betrübt. Hat er sich denn nicht daran gewöhnt (er, der sich für einen großen Romantiker hielt!), ohne Liebe zu leben? Er erinnert sich – aber das ist eine Vorstellung ohne Emotion, ohne Substanz –, wie er sich, sobald sie sich ein wenig entfernte, sobald sein Körper nicht mehr befriedigt wurde, nach ihr sehnte. Seltsam, wie sein Begehren, das er für die wichtigste Sache in seinem Leben hielt, sich gelegt hat. Heute, da er allein ist – da es nur einen Austausch guter Dienstleistungen zwischen ihm und Clotilde gibt und weiter nichts –, weiß er – rein mental –, dass die Liebe mit Zélie sein großes Abenteuer war, die Leidenschaft eines jeden Moments. Und doch beschwert sich nichts in ihm über die Verdrießlichkeit seines Gefühlslebens. Und seines Sinneslebens.
Zélie! Elisabeth mit echtem Namen, aber sie fand Zélie weniger banal. Wie prätentiös.
Wenn er es recht überlegt, hat die Reisgeschichte eine gewisse Bedeutung. Für die Trennung. Die unterschwellige Reislogik. Dass er immer gerne welchen gegessen hat, war kein Problem. Aber warum hat er immer zu viel davon gekocht? Sie sagte, Reis würde sich nicht halten, selbst in Ländern, in denen er das Hauptnahrungsmittel sei und man mit der Nahrung spare, wüssten die Einheimischen, dass man gekochten Reis nicht aufbewahren dürfe. Sie sagte Warum kochst du denn nicht genau so viel, wie du dann isst, warum diese … ach, diese … Manie, zu viel zu kochen? Hast du Angst, es wäre nicht genug? Und dann? Würdest du mehr Käse essen! Ach! Was für eine absurde Angst . Sie selbst hatte am Ende gar keinen mehr gegessen, frisch gekocht oder nicht.
Sie hätte darüber lachen können. Die Verschwendung (am Ende warf er welchen weg) war schließlich minimal und seine Manie harmlos. Also? Warum diese Verärgerung? Wegen der irrationalen Logik. Zu viel Reis zu kochen entspringt bei ihm einer persönlichen Logik, einer sehr stringenten und sehr persönlichen, also einer von denen, die man mit keinem teilt und die, weil sie einem verborgenen Mechanismus gehorchen, eine heilende und besänftigende Wirkung haben – die aber jedem anderen absurd vorkommen. Zélie fand das absurd. Er hätte übrigens größte Schwierigkeiten, sich selbst über die Gründe für sein Verhalten klarzuwerden: Wie jede einer persönlichen Logik folgende Absurdität ist diese (das spürt er unbestimmt) für sein psychisches Gleichgewicht notwendig. Kurz, sie haben sich wegen Reis getrennt – aber das ist natürlich ein Bild. Sie haben sich getrennt, weil die irrationale Logik des einen am Ende für den anderen meist unerträglich ist, weil der andere verbittert ist, uns Tag für Tag auf schrecklich vorhersehbare Weise, an derselben Stelle versinken zu sehen. Sie sah ihn zu viel Reis ins Wasser schütten, und schon schrillte ihr Inneres vor Gereiztheit, ja, genau, es ist die vorhersehbare Wiederholung der irrationalen Geste, die manche alten Paare in den Wahnsinn treibt, so sehr sie sich auch lieben mögen. Er erinnert sich eines Wortwechsels, den er irgendwo aufgeschnappt hat: Aber nein, wir verpassen den Zug nicht – Lass uns trotzdem schon losgehen, bitte, was stört’s dich, wenn wir zehn Minuten zu früh sind, das ist doch kein Beinbruch – Warum sollte ich zehn Minuten länger in einem dreckigen Bahnhof herumstehen, nur weil du von Geburt an ein Angsthase bist? – Ja und, ist das so schlimm? – Nein, aber ich ertrag das nicht, du könntest dich zusammenreißen . Sich zusammenreißen. Eben nicht, man muss einfach zu viel Reis kochen und zu früh am Bahnhof sein. Heute denkt er, dass Liebe zum Großteil aus Nachsicht besteht – nein, eher, dass die wesentliche Wirkung von Liebe Nachsicht ist: Oh, Liebling (sagt die Geliebte und schmiegt sich mit einem entzückenden Lächeln in seine Arme), du hast schon wieder zu viel Reis gekocht …
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