' Proteste formieren sich erneut in einer Bürgerinitiative ' prangten darüber die fetten Lettern einer Schlagzeile. Zwischen den Textspalten darunter fand Heinrich eine kleine Abbildung von einem brütenden Vogelpaar, das ihn an gewöhnliche Möwen erinnerte. Das Porträt eines Mannes mittleren Alters mit Baskenmütze erweiterte die Bildsprache des Artikels. Heinrich hätte den Bericht mit vorbehaltlosem Interesse gelesen, wenn ihm nicht das 'erneut' ins Auge gefallen wäre und seinen Argwohn geschürt hätte. Dieser Zeitungsbericht konnte für ihn kaum Gutes verheißen, denn er handelte vom Ereignis des Vortags, als ein Autokran den Sendemasten auf die Turmspitze gehievt hatte. Beunruhigt widmete sich Heinrich der Lektüre und stieß auf überraschend neue Einzelheiten zur Vorgeschichte seines Leuchtturms:
Aufgebrachte Bürger versammelten sich am Vortag ein weiteres Mal, um gegen die Errichtung einer Mobilfunksendeanlage in ihrem Ort zu protestieren. Vor etwa zwei Jahren war es ihnen bereits gelungen, das Vorhaben zu unterbinden, als sie eine Protestinitiative gegründet hatten, die vor Gericht gezogen war. Unter Berufung auf den Landesdenkmalschutz für historische Sakralgebäude war der Landeskirche zunächst untersagt worden, bauliche und technische Veränderungen an dem alten Gotteshaus vorzunehmen. Neuerdings hatte sich die Rechtsgrundlage grundlegend geändert. Juristen des Mobilfunkbetreibers hatten der Kirchenverwaltung zu einer Umwidmung des Objektes wieder zurück in einen Leuchtturm geraten. Zudem war von den Beratern auf den anschließenden Verkauf des Gebäudes an einen privaten Investor gedrängt worden, der wirtschaftliche Interessen vehementer als eine Kirchengemeinde behaupten konnte. Letztlich stand der Denkmalschutz der technischen Aufrüstung des Leuchtturms in eine auch für die Seeschifffahrt nutzbare Mobilfunksendeanlage nicht länger entgegen. Die Bürgerinitiative wollte sich damit nicht abfinden. Angeführt von einem Realschullehrer namens Knut Eusterkamp wurde erbitterter Widerstand angekündigt. Die Anrufung des Gerichts auf einstweilige Verfügung des Baustopps stünde unmittelbar bevor. Als Leiter der lokalen Sektion eines Vogelschutzbunds konnte Eusterkamp problemlos den Dachverband aller Naturschutzorganisationen im Land als Verbündeten der Bürgerinitiative gewinnen. Dessen Wissenschaftler nahmen eine aktuelle Kartierung des Brutgebiets für Seevögel an den in Sichtweite zum Leuchtturm gelegenen Küstenklippen vor. Nicht allein Denkmalschutz, sondern Arten- und Biotopschutz galten nunmehr als Zauberworte zur Abwehr des Bauvorhabens. Die Kartierung ergab unter anderem ein brütendes Eissturmvogelpaar. Nach Ansicht der Biologen gerieten Lebensraum, Gesundheit und Fortpflanzung dieser bedrohten und unter strengen Schutz gestellten Vogelart durch die Einstrahlung von hochfrequenten Funkwellen in Gefahr. Realschullehrer Eusterkamp sah dem Ausgang des wahrscheinlichen Gerichtsverfahrens deshalb mit großer Zuversicht entgegen. Zudem bezichtigte der Vogelschützer eine Dreierclique aus Tamara Balkov, Architekt Kurt Müller und Pfarrer Jan Friesen als Wortbrecher und Täuscher. Alle drei hätten damals ein Einlenken auf die Interessen der Bürgerinitiative angekündigt. Ein vollständiger Verzicht auf eine Mobilfunkanlage auch auf anderen Gebäuden der Kirchengemeinde sowie in der Umgebung des Ortes wäre von ihnen bekundet worden. Die Clique hätte die Zeit der eingekehrten Ruhe nur genutzt, um eine perfidere Lösung für die Umsetzung des Bauvorhabens vorzubereiten. Von dem Investor wäre bislang nicht viel mehr bekannt, als dass er im Grundbuch als ein Herr Heinrich Beck eingetragen ist. Dieser ortsfremde und unbekannte Objekterwerber sei tatsächlich als Strohmann der Interessen von Balkov, Müller und Friesen anzusehen.
Fassungslos legte Heinrich die Zeitung beiseite. Er hatte genug gelesen. Das eben noch heile Traumbild von seinem Leuchtturm begann, in ein bloßgelegtes Trugbild zu zerbröckeln. Nichts davon wollte er wahrhaben. Heinrich rief nach dem Wirt und bestellte ein Bier und ein Korn. Dieser bemerkte seinen Stimmungsumschwung und sah an der aufgeschlagenen Zeitung, was er eben gelesen hatte:
»Mir ist es gleich«, sagte er gelassen und gab Heinrich einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Hier im Ort weiß niemand davon, dass Sie dieser unbekannte Herr Beck sind. Aber die Leute reden über Sie und Ihnen wird nichts Gutes nachgesagt. Na und? Machen Sie, was Sie wollen! Solange dieser Eusterkamp sich die Zähne an Ihnen ausbeißt, sind Sie mir sympathisch.«
Heinrich trank das Bier in einem Zug und kippte den Korn nach. Die Wärme im Magen tat ihm gut. Er begann klar zu sehen und stellte Überlegungen an, die er sich am Tag zuvor noch nicht hatte träumen lassen. Für ihn bedeutete die einstweilige Verfügung eines Baustopps eine finanzielle Gefahr. Verzögerte oder ganz ausbleibende Mieteinnahmen drohten, ihn in eine Schuldenfalle zu treiben. Ihm bliebe keine andere Wahl, als sich mit allen Mitteln gegen das Bürgerbegehren zu wehren. Als Verwaltungsjurist sah er sich sehr gut dazu in der Lage. Nahezu perfekt verfügte er über ausgiebige Prozesserfahrung, juristisches Fachwissen im Verwaltungsrecht und über ausreichend Reputation, um vor Gericht eine überzeugende Figur abzugeben. Heinrich redete sich nichts ein. Genau aus diesem Grunde war er als Gewinner des Preisausschreibens hervorgegangen. Ihm war der Leuchtturm nicht zugelost, sondern gezielt zugeschoben worden. Von allen Teilnehmern am Gewinnspiel mussten ihm wohl die besten Voraussetzungen für einen schwierigen Gerichtsprozess zugemessen worden sein. Zudem war wohl sein Persönlichkeitsprofil ausgeforscht worden. Als Neueigentümer des Leuchtturms versprach er, ein Mensch zu sein, der aus Mangel an Ehrgeiz kaum eigene Ziele verfolgte, sondern sich führen ließe. Tamara Balkov, Architekt Müller und nicht weniger Pfarrer Jan Friesen, hatten bereits vor der angeblichen Auslosung begonnen, mit ihm ein Spiel zu treiben. Heinrich blickte wütend und enttäuscht in das leere Bierglas. War er wirklich ein Mensch, dem von Weitem angesehen wurde, sich wie ein Werkzeug für alles benutzen zu lassen? Renate Wuttke führte ihn vor und ließ ihn wie einen Deppen erscheinen und schlimmer, Tamara betrog ihn ebenso. Heinrich bestellte einen weiteren Korn. Als der Wirt nachschenken wollte, nahm er ihm die Flasche aus der Hand. Er dachte, dass er mehr davon brauchte, um seinen Ärger hinunterzuspülen und so verflog nach einer Weile die Bitternis. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er den Aufbruch in eine völlig neue Zukunft gesehen. Niemand hatte ihm versprochen, dass er dabei Geschenke zu erwarten hätte oder er sein Wesen würde ändern können. Er würde nach wie vor die Risiken zumeist scheuen und weiterhin die besten Chancen im Leben verpassen. Deshalb hätte er keinen Nachteil darin zu sehen, dass Menschen wie Marlene, Renate Wuttke oder Tamara Balkov sein Schicksal bestimmten. Eine gewisse Fremdsteuerung hatte ihm bisher im Leben größere Vorzüge als Einschränkungen eingebracht. Heinrich fing an, in dieser Hinsicht selbst Mahoud Benisad als einen Vorteil zu begreifen, der für eine Zeit lang in Marlenes Pfarrhaus unterkommen würde. Natürlich sollte der Fremde als Gegenleistung im Haushalt mithelfen und Renovierungs- und Gartenarbeiten ausführen. Falls er Marlene verlassen würde, diente Mahoud Benisad gewissermaßen als Schutz für seine Frau. Er wollte sich nicht vorstellen, sie an diesem gottverlassenen Ort und in diesem viel zu großen Haus allein zurückzulassen. Ob er sich jemals für immer von ihr trennen würde, sah Heinrich auch nach einigen weiteren Gläsern Korn nicht voraus. Ein Motiv, der ihn zur Scheidung bewegen konnte, wäre Tamara. Er sah keinen Grund, über sie enttäuscht zu sein. Sie hatte ihn sicher nicht seinetwegen im Unklaren gelassen. Tamara Balkov verhielt sich als Geschäftsfrau intelligent, vorausschauend, geradezu berechnend. Dafür wurde sie bezahlt. Es erwies sich als purer Zufall, der sie mit ihm zusammenbrachte. Hätte er an dem Preisausschreiben nicht teilgenommen, hätte Tamara Balkov einen anderen an seiner Stelle für dumm verkauft. Für den Moment zählte das alles nicht. Tamara war gut im Bett! Vor allem dieser Vorzug zählte für ihn. Auch sonst fand er sie als einen warmherzigen, lebensfrohen, gewinnenden und herausfordernden Menschen. Für ihn verkörperte Tamara alles das, was Marlene fehlte. Er genoss ihre Gegenwart und sehnte sich nach ihr. Heinrich versuchte, aufzustehen und dachte, zu seinem Spazier- und Erkundungsgang aufzubrechen. Schnell bemerkte er, dass er wankte, und sah ein, besser den Tag über seinen Rausch auszuschlafen. Er hätte bis zum Abend wieder nüchtern zu werden, um mit Tamara eine schöne Zeit zu verleben. Der Wirt half Heinrich auf sein Zimmer, legte ihn auf das Bett, zog ihm die Schuhe aus und dunkelte ab. Wahrscheinlich würde er diesen Dienst mit auf die Rechnung setzten. Heinrich rechnete nicht nach, denn inzwischen beschäftigte ihn etwas anderes. Drei sind einer zu viel, viel ihm als Redensart ein. Dass der Architekt und Tamara Balkov ein gemeinsames Interesse verfolgten, Mobilfunkanlagen zu errichten, lag auf der Hand. Welche Rolle hingegen spielte Jan Friesen? Diesem seltsamen Pfarrer konnte es gleichgültig sein, ob auf einem Gebäude, das der Kirchenverwaltung nicht mehr gehörte, ein Sendemast errichtet werden würde. Knut Eusterkamp sprach von einer Dreierclique und meinte vielleicht eine Dreiecksbeziehung. Immerhin hielt Heinrich es für denkbar, dass Tamara mit dem Architekten ein Verhältnis pflegte. So, wie damals die beiden vor dem Leuchtturm aus dem Wagen gestiegen waren, gaben sie zumindest den Eindruck einer etwas erkalteten Vertrautheit. Heinrich stellte sich vor, dass sie vor oder während der Liebschaft mit dem Architekten noch eine weitere Beziehung mit Jan Friesen unterhalten haben mochte. Er beabsichtigte deshalb nicht lange zu raten, sondern bei nächster Gelegenheit Tamara in dieser Frage ein wenig auszuhorchen. Denn das Letzte, das Heinrich in Zukunft brauchte, bedeutete das Vorhandensein eines oder mehrerer Nebenbuhler.
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