Ein Fahrzeug näherte sich von fern. Die Scheinwerferlichter gaben den vielen Pfützen und Rinnsalen auf der Straße ein grelles Funkeln. Mahoud blieb davon geblendet, als der Wagen vor dem Tor zum Stehen kam. Eine männliche Gestalt stieg bei laufendem Motor aus und passierte die Drehtür am Pförtnerhaus. Schließlich packte der Mann ihn am Arm und zog ihn aus dem Lichtkegel der Scheinwerfer. Es war nicht der feste und schmerzende Griff, den Mahoud sonst von den Taxifahrern kannte, und auch nicht deren Zerren und Stoßen.
»Kommen Sie, Herr Benisad, steigen Sie ein!«, hörte er eine vertrauensvolle, fast schüchterne Stimme sagen. Er erkannte Dr. Gutwein. Eine zweite Person war an der Fahrerseite des Wagens ausgestiegen und zur Pförtnerloge gelaufen, wie Mahoud nun erst bemerkte. Offenbar wurde über seine Übergabe verhandelt. Es schien dabei nicht recht voranzugehen, bis die Person die Tonart wechselte und den Pförtner mit Gift und Galle anschrie und ihm juristische Schritte androhte. Renate Wuttke gab erneut ein Beispiel dafür, dass es sich nicht lohnte, mit ihr über Kreuz zu geraten. Deutlich eingeschüchtert betätigte der Pförtner die Entriegelung der Tür für die Drehrichtung nach draußen. Mahoud und Dr. Gutwein gelangten hindurch und stiegen in Renate Wuttkes Wagen. Unterdessen setzte die alte Anwältin ihrer Wut ein Ausrufezeichen hinterher. Sie kanzelte den Pförtner noch dafür ab, Mahoud ungeschützt der Nässe und Kälte ausgesetzt zu haben. Der Mann begriff, dass er in den kommenden Tagen um seinen Arbeitsplatz zu fürchten hatte. Sichtlich zufrieden stieg die Anwältin in ihren Wagen und setzte zurück. Über die Schulter und nach hinten gelehnt, gab sie Mahoud, ein aufmunterndes Lächeln:
»Heute werden wir das Unmögliche möglich machen. Sie werden sehen!«, sagte sie erwartungsfroh. Das Gesicht von Jonathan Gutwein ließ Mahoud hingegen ein ungutes Gefühl erahnen. Offenbar wusste der Psychologe bereits, worauf sie anspielte. Renate Wuttkes Zuversicht schien er allerdings nicht zu teilen. Die Fahrt verlief in Schweigen. Bald blieben die Lichter der Stadt zurück und nur vereinzelte Straßenlaternen, Ampelanlagen und beleuchtete Schilder wiesen für eine kurze Zeit die Richtung. Gegenverkehr gab es kaum. Von den Lichtkegeln der Scheinwerfer wurden längs der Straße immer dichter werdende Baumreihen und Spaliere aus Hecken und Gestrüpp angestrahlt. Mahoud folgerte daher, dass sie tief in eine bewaldete und entvölkerte Gegend hineinfuhren. Was ihn dort erwartete, blieb ihm vollkommen schleierhaft.
»Sie haben nichts davon erwähnt, dass ich als Treiber herhalten soll!«, polterte Jonathan Gutwein plötzlich los und ließ seinem angestauten Missmut freien Lauf. »Am Ende werde ich noch erschossen! Worauf habe ich mich mit Ihnen nur eingelassen?«
»Auf eine bessere Zukunft«, entgegnete Renate Wuttke kalt und behielt ihren Blick unbeirrt auf die Straße gerichtet. »Viele Chancen werden Sie nicht mehr bekommen. Für eine solch gute Gelegenheit würden andere, die in einer weit weniger hoffnungslosen Lage stecken als Sie, ohne zu zögern, ihr Leben riskieren. Was wollen Sie überhaupt? Seien Sie doch dankbar!«
»Ich war noch nie ein Treiber gewesen. Ich weiß nicht, was ich dabei zu tun habe«, verteidigte der Psychologe sich kleinlaut. Er schien über die Worte der Anwältin nachzudenken.
»Das werden Sie schon sehen, machen Sie sich keine Sorge. Vor allem aber werden Sie auf unseren Mandanten achtgeben.« Mahoud sah, wie Jonathan Gutwein verzweifelt seine Hände über dem Kopf zusammenschlug und in Selbstmitleid versank:
»Nie hätte ich mich darauf einlassen dürfen«, wimmerte er und blickte Mahoud unheilvoll in die Augen. Dass Treiber zu einer Jagd gehören, kannte Mahoud aus seiner Heimat, denn schließlich war er Falkner. Worin also lag das Problem des Psychologen? Dennoch verzichtete er darauf, nachzufragen. Er fürchtete, die an diesem frühen Morgen besonders kampfeslustige alte Dame damit gegen sich aufzubringen.
»Beruhigen Sie sich, Jonathan«, versuchte Renate Wuttke die Stimmung ihres Begleiters aufzuhellen, »ich hatte keine andere Wahl. Ich würde Sie nicht als zweiten Treiber brauchen, wenn mir Heinrich Beck nicht mitgeteilt hätte, dass er selbst ohne eigenen bleiben würde.« Mahoud dachte nach. Ebenso wie Gutwein wäre er als Treiber vorgesehen. Allmählich verstand er, warum er mit in den Wald genommen wurde. Auf Dr. Gutweins Attest für diesen frühen Ausflug stand als Begründung ' Stressbelastungstest in Verbindung mit Schlafentzug und Aussetzung der Tiefschlafphase ' geschrieben. Mahoud wäre niemals darauf gekommen, dass der angebliche psychologische Untersuchungsgang sich für ihn als gewöhnlicher Jagdhelferdienst erweisen würde. Die Anwältin verlangsamte die Fahrt. Ihr Blick wurde suchend und unsicher, als ob sie eine Abzweigung bereits verpasst hätte. Beiläufig griff sie in eine Beuteltasche neben ihr auf dem Beifahrersitz und zog eine Falsche hochprozentigen Rum hervor. Ohne sich umzuwenden, reichte sie den Alkohol über ihre Schulter nach hinten.
»Was ist? Nun nehmen Sie schon!«, drängte sie ungeduldig und Mahoud war überrascht, dass sie mit dieser Aufforderung offenbar ihn ansprach. Er griff die Flasche und reichte sie zu Jonathan Gutwein weiter. Der Psychologe legte verweigernd die Hände auf die Brust und berichtigte:
»Der Rum ist für Sie.«
»Ich trinke keinen Alkohol«, entgegnete Mahoud verständnislos, »nicht im Leben habe ich Alkohol getrunken!« Er fühlte sich bedrängt und hilflos.
»Dann fangen Sie eben jetzt damit an!«, forderte Renate Wuttke garstig und entschloss sich nach einer Weile, auf seine Bedenken einzugehen:
»Sie dürfen trinken! Rum ist für Sie kein Alkohol, sondern Medizin. Wenn unser Doktor ein richtiger Arzt wäre, ein Psychiater und nicht nur eben ein Seelendeuter, dann könnten wir Morphium einsetzen. So jedoch müssen uns Alkohol, Schmerz- und Schlaftabletten dienen.« Renate Wuttkes Worte lagen ihm noch im Ohr, als der Psychologe aus seiner Hosentasche zwei verschiedene Schachteln mit Tabletten zog. Er drückte jeweils drei Kapslen aus der Plastikeinschweißung heraus. Dann hielt er ihm eine offene Hand mit den Medikamenten vor den Mund:
»Nun nehmen Sie schon!«, drängte er. »Vertrauen Sie uns! Spülen Sie nach, bis die Flasche halb leer ist. Den Rest des Rums brauchen wir noch zum Desinfizieren.« Die Sachlichkeit des Psychologen wirkte auf Mahoud trotz allen Unverständnisses ziemlich überzeugend. Dennoch zögerte er, die Pillen hinunterzuschlucken. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine Tabletten genommen. Mahoud dachte nach. Auf keinen Fall wollte er eine Diskussion anfangen. Seinetwegen waren sie unterwegs. Er ahnte, dass der Anwältin die Jagd gleichgültig war. Sie unternahm gerade das Mögliche, um ihm die Haut zu retten. Alles würde er dafür einsetzen, sie nicht zu enttäuschen und sich für nichts zu verweigern. Morphium blendet Schmerzen aus und diese standen ihm bevor. Um nicht furchtbar zu leiden, würde er so viel Tabletten einnehmen und so viel Rum in sich hinein schütten, wie er nur konnte. Mahoud schluckte und trank, was ihm gereicht wurde.
»Das schätze ich an Ihnen, Herr Benisad, Sie wissen, worauf es im Leben ankommt«, stellte Renate Wuttke mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel fest. Sie zeigte sich sichtlich erleichtert, dass ihr eine entnervende Diskussion erspart bliebe. Allmählich setzte die Morgendämmerung ein. Renate Wuttke bog in einen Waldweg ab, auf den ein durchweichtes Pappschild am Straßenrand hinwies.
»Ich hätte den Weg auch blind gefunden«, spottete sie in einem Selbstgespräch, »seit Jahren laden die von Mannwitz zur selben Jagdhütte ein. Mehr als dieses Revier besitzen sie nicht.« Wohl aus dem trügerischen Gefühl überschätzter Ortskenntnis gab die alte Dame ziemlich Gas. Der Waldweg indes wurde enger, kurviger und holpriger. Ein Gefühl von Schwindel überkam Mahoud, als er zusammen mit dem Psychologen auf der Rückbank hin und her geworfen wurde. Ihm wurde übel.
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