„Jetzt lass mich mal nach deiner Schulter schauen“, sagte der Animagus und bedeutete dem Jungen, sich in einen Sessel zu setzen. Während es sich sein Schützling gemütlich machte, suchte der Gelehrte ein paar Tiegel und Fläschchen zusammen und stellte sie auf den kleinen Beistelltisch, der neben dem Sitzmöbel stand.
„Ich werde deine Wunde säubern und anschließend eine Kräuterpaste auftragen, um die Heilung zu unterstützen.“ Behutsam löste er den provisorischen Verband. Überrascht sog er die Luft ein, als der letzte Stoffstreifen fiel.
„Was ist?“, fragte Aidan beunruhigt und linste auf die Stelle knapp unter dem Schlüsselbein.
Valerius nahm ein bereitgelegtes Tuch, tauchte es in die Wasserschüssel und reinigte vorsichtig die Verletzung oder zumindest das, was davon noch übrig war. Dort, wo gestern noch ein tiefer Einschnitt von der Spitze des Pfeils zu sehen war, prangte nun nur noch ein verschorftes kleines Loch.
„Es scheint, als ob die Wunde über Nacht fast komplett verheilt sei. Das ist interessant.“
„Ihr habt recht! Es tut auch gar nicht mehr weh“, wunderte sich der Junge. „Das müssen Eure Geschichten gewesen sein.“ Sein Bauch knurrte vernehmlich. „Ich sterbe fast vor Hunger, lasst uns etwas essen gehen“, schlug er dann vor. „Ich ziehe mir nur schnell etwas Frisches an.“ Und schon war er im Nachbarzimmer verschwunden.
„Wahrscheinlich …“, gab Valerius nachdenklich zurück, doch er hatte noch eine ganz andere Vermutung.
Wenig später saßen sie im Garten des fürstlichen Anwesens und genossen ihr Frühstück. Es gab frisch gebackenes Brot, dazu kalten Braten und verschiedene Käsesorten. Eine Schale Obst und Gemüse fehlten ebenso wenig wie eine dampfende Kanne Tee.
„Ah, das war gut.“ Wohlig seufzend lehnte sich Aidan zurück. Er streckte seine Beine und ließ sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen. Sein Blick schweifte durch den Garten. Ein paar Diener waren damit beschäftigt, eine Hecke wieder in eine ordentliche Form zu bringen, während andere an den Blumenbeeten arbeiteten.
Valerius vertiefte sich in ein Buch, das er von der Bibliothek mitgenommen hatte.
„Was lest Ihr denn da?“, wollte Aidan neugierig wissen.
„Ach, ich schaue nur etwas nach …“, er wedelte in einer unbestimmten Geste mit der Hand.
„Mein Sohn!“ Aufgeregt lief Fürst Geralf herbei. Seine strähnigen langen Haare hingen ihm ungepflegt ins Gesicht, auf seinem zerknitterten Gewand zeigten sich Flecken. „Wie geht es dir?“
Aidan setzte sich auf und starrte dem Fürsten finster entgegen. „Seit wann interessiert dich das? Gestern war es dir egal und schau dich an. Anstatt nach deinem Sohn zu suchen, betrinkst du dich mit deinen Kumpanen.“
Ein verlegener Ausdruck trat in das Gesicht des Fürsten. „Es tut mir leid. Aber es sah wirklich nicht schlimm aus, und ich weiß doch, dass du ein starker Junge bist. Also sag mir, was ist mit dir?“
„Valerius hat sich alles angeschaut und meinte, es ist schon fast wieder verheilt.“
Ein ungläubiger Ausdruck breitete sich auf dem Antlitz des Fürsten aus. „Das ist ja wunderbar. Ich danke Euch, Meister Animagus!“
Valerius legte das Buch beiseite und erwiderte: „Mein Anteil daran war der geringste.“
„Ihr habt wieder euren Hokuspokus gewirkt, nicht wahr?“, schleuderte ihm Celerion entgegen, der eben die Terrasse betrat. „Ich habe die Wunde gesehen. Nicht einmal unsere besten Priester des Lichts können solche Verwundungen so schnell heilen. Verderbt den Jungen nicht, so wie Ihr es damals mit Fürstin Katharina getan habt.“
Bei der Erwähnung des Namens seiner verstorbenen Frau verfinsterte sich die Miene des Fürsten.
„Katharina …“, kam es leise über seine Lippen.
Bevor Valerius etwas erwidern konnte, kam ihm Aidan zuvor: „Meister Valerius hat damit nichts zu tun. Euer unsäglicher Pfeil hat wohl nur einen Kratzer bei mir hinterlassen. Seid doch froh darüber.“
„Weder meinen Sohn, beschossen vom eigenen Gefolgsmann, noch meine Frau konnte ich beschützen. Was bin ich nur für ein Herrscher?“, fragte Fürst Geralf, das Gesicht fahl, Verzweiflung in seinem Blick.
„Mein Fürst, so dürft Ihr nicht denken. Ihr habt es auch nicht einfach. Ihr wurdet Eurer geliebten Frau beraubt und müsst Euch nun um alles kümmern“, gab Celerion zu bedenken. „Doch ich werde immer an Eurer Seite stehen und Euch nach bestem Wissen unterstützen.“
„Mein Fürst, der Tod der Fürstin war nicht Eure Schuld!“, warf Valerius ein.
„Dann war es die Eure?“ Der Blick des Oberpriesters des Lichts wurde lauernd.
„Celerion, sprecht nicht so mit Meister Valerius! Vater, sagt doch auch etwas“, rief Aidan.
Der Angesprochene blickte auf, Verwirrung und Schmerz in seinen Augen. „Warum?“, entwich es gequält seinen Lippen.
„Celerion ist nicht gut für dich“, ereiferte sich der Junge.
Der Fürst zuckte zusammen, die Trauer wandelte sich in Zorn. „Und du hast nicht das Recht, so über ein ehrbares Mitglied des Hofes zu sprechen! Immer begehrst du auf, immer habe ich es schwer mit dir. Wärst du nicht geboren, würde sie noch leben! Deine Geburt und der Hokuspokus deines Freundes haben sie mir genommen. Verflucht sollt ihr sein!“ Damit wandte sich Geralf um und stürmte davon, dicht gefolgt von Celerion, der beschwichtigend auf ihn einredete.
Wie betäubt stand Aidan da und starrte auf die Flügeltür, durch die sein Vater soeben wieder im Gebäude verschwunden war. Eine einzelne Träne suchte ihren Weg seine Wange hinab, seine Unterlippe zitterte. „Habt Ihr das gehört?“
Valerius trat neben ihn und legte seine Arme um den Jungen. „Ja, das habe ich.“
Aidan umschlang seinen Lehrmeister und Freund ebenfalls. „Ich hasse ihn!“, sagte er und vergrub sein Gesicht an dessen Schulter.
„Ich weiß.“ Beruhigend strich der Animagus ihm über den Rücken. „Doch Hass hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Lass uns in die Bibliothek gehen, das bringt dich auf andere Gedanken.“ Sie verließen die Terrasse, während am Horizont dunkle Wolken aufzogen.
Valerius schreckte hoch, nur langsam beruhigte sich sein klopfendes Herz. Es war dunkel, nur vage hoben sich die Konturen der Regale und seines Schreibtisches von der Umgebung ab. Regen prasselte gegen die Butzenscheiben seiner Kammer. Was hatte ihn geweckt? Er entzündete eine kleine Lampe, die auf seinem Nachttisch stand und schwang seine Beine aus dem Bett. Rasch zog er sich an und verließ sein Zimmer. Im Schloss war es gespenstisch ruhig, der Gang lag in Dunkelheit, und doch spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er wollte nach Aidan sehen, fand dessen Zimmer jedoch leer vor, die Tür stand offen. Der Raum sah aus, als ob ein Wirbelsturm darin gewütet hätte, auch das Bettzeug war zerrissen. Ein einzelner Schrei durchbrach die Stille, so voller Verzweiflung und Todesangst, dass Valerius das Blut gefror. Sofort stürmte er aus dem Zimmer. Er hetzte den Korridor zum Empfangssaal hinunter und fand die Flügeltüren zerborsten und schief in den Angeln hängend. Die schweren Holztische waren umgeworfen. Durch das zerborstene Fenster wehte kalter Wind herein, der die Vorhänge zum Flattern brachte. Auf dem regennassen Parkett erkannte Valerius verwischte Spuren, die aus der Halle hinaus ins Freie führten. Er eilte nach draußen und wäre fast über einen am Boden liegenden Körper gestolpert. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass es Celerion war, der blutüberströmt und mit toten Augen dalag. Valerius schloss die Lider des Toten und erbat stumm die Aufnahme der Seele ins Reich der Toten. Vom Waldesrand ertönte ein weiterer Schrei. Rasch sprang der Gelehrte auf und eilte den Kiespfad hinab. Die Steine knirschten unter seinen Sohlen, sein Atem hinterließ feine weiße Wölkchen. Inzwischen hatte der Regen aufgehört und der Himmel riss mehr und mehr auf. Das fahle Licht der Gestirne beleuchtete den schmalen Pfad, der tief in den Wald führte. Im Schein der Lampe erkannte der Animagus immer wieder blutige Abdrücke an der Rinde der Bäume und auf den Blättern der Büsche. Keuchend erreichte er den kleinen Bachlauf, der sich durch die Ländereien des Fürstentums wand. Im Uferschlamm waren die Spuren verschiedenster Tiere zu erkennen. Dem aufmerksamen Blick Valerius‘ entgingen auch die Stiefelabdrücke nicht. Er folgte ihnen und kam an eine Stelle, an der der Boden aufgewühlt war. Die Pfotenabdrücke eines außergewöhnlich großen Wolfes hatten sich tief in das weiche Sediment gegraben. Auch auf dem Boden befand sich Blut. Hatte hier ein Kampf stattgefunden? Angst um seinen Schützling griff wie eine kalte Faust nach seinem Herzen und presste es zusammen. Eine laute Stimme, die die Stille im Wald durchbrach, wies Valerius den Weg. Mit schmerzenden Lungen und rasselndem Atem erreichte er die Lichtung mit der Eiche. Im Schein des Mondes gewahrte er Geralf, der sein langes Schwert auf einen Wolf richtete. Das Tier lag zusammengekauert zu Füßen des Mannes, den Blick zum Adeligen erhoben.
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