Mehrere bläuliche Schemen flogen durch die Butzenscheiben des Fensters in das Gemach. Vage erkannte er die durchscheinenden Formen von Wildtieren. Ein Hirsch mit prächtigem Geweih, ein Wolf und ein mächtiger Adler waren darunter. Der Gelehrte stellte das Schälchen beiseite, hob die Hände und wies auf den Bauch der Fürstin, sein Gesang wurde lauter. Die Tiergeister umschwebten das Bett in immer schneller werdenden Kreisen, bis nur noch ein heller Wirbel zu sehen war, der schließlich in den Bauch der Fürstin eindrang. Sie keuchte und wand sich wie unter Schmerzen. Der Fürst sprang auf, doch eine knappe Geste von Valerius hielt ihn davon ab, näher zu treten. Der Bauch der Frau schien von innen zu glühen, schwache Bewegungen zeigten sich unter der Haut. Die Fürstin schrie auf, ihre Hände krampften sich in das Laken. Das bläuliche Leuchten intensivierte sich, und nach wenigen Augenblicken wurde der Kopf eines Kindes zwischen ihren Beinen sichtbar. Rasch griff sich Valerius eines der bereitgelegten sauberen Tücher und nahm den neuen Erdenbewohner vorsichtig in Empfang. Die kräftigen Schreie des Jungen und das Wimmern der Mutter mischten sich in den Gesang des Animagus. Die Tiergeister verließen den Leib der Fürstin wieder und verharrten einen Augenblick über ihm, abwartend. Valerius, das in das Tuch gewickelte Kind im Arm haltend, beendete die magische Gesangsformel und neigte ehrerbietig den Kopf. Die Tiere taten es ihm nach und verschwanden wieder durch das Fenster. Geschwind legte er dem Fürsten seinen Sohn in den Arm.
„Euer Erbe, mein Fürst.“
Rasch wandte er sich wieder der Gemahlin zu, doch ihre Atemzüge waren nur noch ein schwaches Röcheln. Er fasste ihre Hand und strich ihr über die schweißnasse Wange. „Meine Herrin, Euer Sohn ist wohlauf und stark.“
Ihre geschlossenen Augen zuckten, doch auf ihren Lippen meinte der Gelehrte ein schwaches Lächeln zu erkennen. Es tat ihm im Herzen weh, dass er sie nicht retten konnte, aber er spürte, wie ihre Seele bereits der ewigen Nacht entgegenstrebte. Schließlich entwich der Fürstengemahlin ein letzter seufzender Atemzug und sie lag still.
Fürst Geralf trat neben Valerius und blickte auf seine Frau herab. Als er bemerkte, dass sie nicht mehr atmete, fiel er kraftlos auf die Knie, den Jungen an seine Brust gepresst. „Nein, liebste Katharina, wieso verlässt du mich? Wie soll ich denn meinem Sohn ein guter Vater sein, ohne deinen Sanftmut und Tatkraft an meiner Seite?“ Er richtete seinen Blick auf Valerius, anklagend und Tränen verschleiert. „Ihr habt mir meine Frau genommen, Ihr mit Eurem Hokuspokus!“
„Aber“, warf Valerius ein, „Ihr habt einen gesunden Sohn, der Euch nun braucht. Die Tiergeister haben getan, was sie konnten, gestärkt, wo sie es vermochten. Doch es reichte nicht für beide, Eure Frau war bereits zu schwach.“
Die Hände Geralfs krallten sich in das Tuch, in dem der Säugling lag. „Meister Valerius, sagt, werdet Ihr mir helfen und aus meinem Sohn einen würdigen Erben für das Reich machen?“
Der Gelehrte neigte das Haupt. „Wenn Ihr das wünscht, werde ich Eurem Sohn ein Lehrmeister und Gefährte sein.“
„Lies noch ein bisschen weiter.“ Valerius wies mit der Hand auf den Pergamentbogen, den Aidan in der Hand hielt.
Der Junge kniff die Augen zusammen und begann zu lesen: „ Hwæt! Wé Gárdena in géardagum þéodcyninga þrym gefrúnon …“
Schließlich hob sein Lehrmeister die Hand. „Stopp, das genügt. Du machst gute Fortschritte. Dein Vater wird stolz auf dich sein.“
Missmutig verzog Aidan das Gesicht. „Warum verbringt er dann so wenig Zeit mit mir? Warum ist er dann schon wieder auf der Jagd mit seinen Vasallen?“
Valerius fuhr sich durch sein kurzes braunes Haar und zuckte mit den Schultern. „Du erinnerst ihn an seine geliebte Frau, deine Mutter.“
„Wisst Ihr, wie oft ich mir das schon anhören musste?“ Wütend sprang Aidan auf. „Als ob es meine Schuld wäre. Ich habe ja nicht einmal die Chance gehabt, ihr zu begegnen.“
Beruhigend legte der Gelehrte seinem Schützling, der mit seinen fünfzehn Sommern inzwischen fast seine Größe erreicht hatte, die Hand auf den Arm. „Ich weiß. Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Ich habe damals getan, was ich konnte.“
„Euch mache ich auch keinen Vorwurf.“ Ein trauriger Ausdruck stahl sich in die blauen Augen des Jungen. „Ich hätte sie nur so gern kennengelernt.“
Valerius drückte Aidan mitfühlend die Schulter. Es bedrückte ihn, wenn er sein Mündel so betrübt sah, er musste ihn auf andere Gedanken bringen. „Was hältst du von einem Ausflug in die Ländereien des Fürstentums, etwas frische Luft schnappen? Ein Ritt in den Wald ist nach so vielen staubigen Büchern eine Wohltat. Außerdem können wir dort mit den Lektionen weitermachen, die dir so viel Freude gemacht haben.“
Aidan zog die Schultern hoch und stieß schließlich die Luft aus. „Ja, Ihr habt recht.“ Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: „Wie eigentlich immer. Doch ich möchte nicht reiten, lasst uns zu Fuß gehen.“
So verließen sie gemeinsam den Herrschaftssitz und erreichten bald den nahen Forst. Es war ein lauer Frühlingsnachmittag, die Sonne schien warm vom Himmel, Vogelgezwitscher und Insektenbrummen erfüllten die Luft.
„So sehr ich auch die Bibliothek mit ihren Wundern schätze, so sehr mag ich auch die Natur.“ Aidan schloss die Augen und atmete den würzigen Waldduft ein.
Durch das lichte Blätterdach stachen immer wieder helle Lichtlanzen und malten verschiedenartige Muster auf den Waldboden. Das Moos dämpfte ihre Schritte, ließ sie wie auf Wolken gehen.
Mit Begeisterung fragte der Junge nach den Namen verschiedener Pflanzen und ließ sich von Valerius Geschichten über die Naturgeister erzählen. Hier und da fanden sich auch die Fährten verschiedener Tiere im weichen Waldboden und der Animagus erklärte seinem Schützling ihre Besonderheiten und ihren Platz im natürlichen Gefüge. Mit leuchtenden Augen hing der Junge an seinen Lippen.
Es raschelte im Unterholz, einen Augenblick später brach ein Keiler daraus hervor. Beim Anblick der Menschen senkte er angriffslustig das Haupt und schnaubte bedrohlich. Valerius hob die Hand und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Das Wildschwein legte den Kopf schief, dann trottete es friedlich ins Grün zurück.
„Was habt Ihr dem Eber gesagt?“, wollte Aidan neugierig wissen.
„Nur, dass wir Freunde sind und er nichts zu befürchten hat“, antwortete Valerius augenzwinkernd. „Wenn du den anderen Lebewesen mit Respekt begegnest, werden sie dir auch Achtung entgegenbringen und dich in Ruhe lassen.“
Plötzlich erscholl unweit vor ihnen ein Jagdhorn, Hufgetrappel wurde laut. Der Gelehrte und sein Schützling wirbelten herum, als ein ängstlich quiekendes Wildschwein heranstürmte. Um ein Haar hätte es Aidan umgerannt, wenn er nicht in letzter Sekunde von seinem Lehrmeister zur Seite gezogen worden wäre. Etwas surrte durch die Luft und Aidan schrie auf. Ein Pfeil steckte in Aidans Schulter. Bevor Valerius ihn davon abhalten konnte, zog der Junge sich das Geschoss aus der Wunde. Ein Strom von Blut quoll hervor. Mit bleichem schmerzverzogenem Gesicht taumelte Aidan gegen seinen Lehrmeister, der ihn auffing. Ein kurzer, prüfender Blick ließ den Animagus aufatmen, die Wunde erwies sich als nicht lebensbedrohlich. Rasch legte er eine Hand auf die Verletzung und murmelte ein paar Worte. Unter seiner Hand erstrahlte für einen kurzen Moment ein blaues Leuchten. Als er sie wieder sinken ließ, war die Blutung weitestgehend gestillt. Mit einem Streifen Stoff aus seinem Mantel verband er die Wunde notdürftig.
Ein Reiter der Jagdgesellschaft preschte heran und stoppte sein Pferd kurz vor Valerius und Aidan.
„Ah, sieh an, der alte Hexenmeister mit seinem Lehrling“, tönte es vom Pferderücken herab. Celerion, einer der fürstlichen Ritter und Oberpriester der Kirche des Lichts, stützte sich auf den Knauf seines Sattels und blickte sie aus seinen schwarzen Augen herausfordernd an.
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