„Haltet Eure Zunge im Zaum, Celerion. Ihr sprecht immer noch mit dem Sohn des Fürsten, Eures Herrn. Den Ihr angeschossen habt!“
„Oh! Verzeiht“, mit spöttisch trauriger Miene neigte er das Haupt. „Das tut mir wirklich außerordentlich leid, ich wollte die Sau treffen. Aber ich bin mir sicher, Meister Valerius, Ihr bekommt das schon wieder hin.“
„Ah, Aidan, Valerius!“ Fürst Geralf ritt mit dem Rest der Jagdgesellschaft aus dem Wald heran und schloss zu Celerion auf. Als er den verbundenen Arm und das schmerzverzerrte Gesicht seines Sohnes bemerkte, fragte er alarmiert: „Was ist passiert?“
Bevor Valerius oder Aidan etwas sagen konnten, kam ihnen der Oberpriester zuvor: „Ich habe auf das Schwein geschossen, das wir schon seit Stunden verfolgen, und da sind wie aus dem Nichts Euer Sohn und sein Lehrmeister aufgetaucht. Mein Pfeil streifte Euren Sohn, mein Herr! Es tut mir sehr leid, es war ein Versehen! Aber wie ihr seht, geht es Eurem Sohn gut. Der gute Valerius hat sich wohl schon um alles gekümmert.“ Er deutete auf Aidan, dessen Gesicht allmählich wieder eine etwas gesündere Farbe annahm.
Der Blick Fürst Geralfs ruhte kurz auf seinem Spross. „Mir scheint, Ihr habt recht. Dann können wir weiterziehen!“
„Vater! Einer deiner Gefolgsleute hat auf uns geschossen, und alles, was dir dazu einfällt, ist, deine dämliche Jagd fortzusetzen?“, schleuderte Aidan Fürst Geralf mit hochrotem Kopf entgegen.
„Ich sagte doch, ich wollte das Schwein…“, begann Celerion.
„Schweigt still, alle beide!“, herrschte der Fürst sie an. „Celerion hat sich entschuldigt und Valerius wird sich schon um den Kratzer kümmern. Sei ein Mann, mein Sohn!“
„Er hätte mich auch töten können!“ Die blauen Augen des Jungen funkelten seinem Vater wütend entgegen. „Bin ich dir so egal?“
Ein traurig gequälter Ausdruck trat auf das Gesicht des Fürsten. „Nein, aber…“
Wütend stieß Aidan einen Schrei aus. „Ich habe schon verstanden!“ Ruckartig wandte er sich von seinem Vater ab und stürmte ins Unterholz. Der Ruf des Fürsten brachte ihn nicht zurück.
Valerius schüttelte nur den Kopf. „Kehrt Ihr zu Eurer Jagd zurück, ich sehe nach dem Jungen.“
Nachdenklich blickte der Fürst seinem Sohn hinterher, nickte aber schließlich und zog mit seinem Gefolge weiter.
„Ich werde mich um Aidan kümmern, so wie ich es immer getan habe“, murmelte Valerius leise zu sich selbst, als er den Reitern hinterher sah.
Der Animagus schlug sich in die Büsche und folgte den umgeknickten Ästen und den niedergetrampelten Gräsern. In seiner Wut und Enttäuschung war Aidan blindlings vorangestürmt, ohne auf seine Umgebung zu achten. Es war nicht das erste Mal, dass Valerius seinem Schützling nach einem Streit mit dessen Erzeuger hinterhereilte. Aidan litt sehr unter der Zurückweisung, unter dem Unvermögen Geralfs, ihm ein guter Vater zu sein, auch wenn der Junge das nicht zugeben wollte. Das führte immer wieder zu Konflikten. Die unbedachten und teils auch gehässigen Bemerkungen der fürstlichen Vasallen taten dann ihr Übriges. Obwohl er manchmal die Contenance verlor, war Aidan sehr erwachsen, sowohl geistig als auch körperlich. Während andere Gleichaltrige Verstecken spielten, verbrachte Aidan viel Zeit mit dem Training seines Körpers und Geistes. Sein Wissensdurst hatte in Valerius einen begeisterten Gegenpart gefunden. Ihm bereitete es große Freude, den Jungen in den verschiedensten Wissenschaften wie Medizin und Philosophie und in den alten Sprachen zu unterrichten. Kaum, dass er laufen konnte, hatte der Gelehrte sein Mündel mitgenommen und ihm die Wunder der Natur gezeigt. Aidan war der Sohn, den er niemals gehabt hatte, und er der Vater, der dem Jungen fehlte.
Valerius folgte dem Wildpfad. Er wusste, dass er ihn nicht würde einholen können, der Junge war ein ausdauernder Läufer. Der Gelehrte machte sich Sorgen um seinen Schützling. Aidan liebte den Wald und kannte sich bestens darin aus. Doch er war verletzt und noch immer in Rage. Aus Erfahrung wusste er, dass sie den Jungen unvorsichtig werden ließ. Valerius konzentrierte sich auf die Augen und Ohren des Waldes, die ihm zeigten, in welche Richtung er sich wenden musste, um Aidan zu finden. Dennoch erreichte er ihn erst, als die Nacht schon hereingebrochen war.
Erleichterung durchströmte ihn, als er den Jungen schlafend auf einer kleinen Lichtung am Fuße einer Eiche, beschienen vom hellen Schein des Vollmondes, fand. Zusammengerollt lag der Junge da, den Kopf auf eine moosbewachsene Wurzel gelegt. Gesicht und Arme wiesen zahlreiche Kratzer auf. Er musste durch dichtes dorniges Unterholz gerannt sein und sich hier vor Erschöpfung niedergelassen haben. Unruhig warf er sich im Schlaf hin und her.
„Ruhig, mein Junge“, flüsterte Valerius und setzte sich zu ihm. Er wusste, dass sein Schützling stark war, doch in diesem Moment wirkte er so verletzlich. Behutsam strich der Animagus Aidan über die zerzausten schwarzen Haare und breitete seinen Mantel über ihn. Mit einem leisen Knurren krallte sich der Junge in den Mantel und schreckte hoch. Verwirrt blickte er sich um und erkannte dann Valerius. „Ihr ...“ Nur langsam verblasste der erschrockene Ausdruck in seinen Augen.
Sanft streichelte Valerius ihm über die Wange. „Du hast schlecht geträumt, oder?“
Aidan nickte schwach. Er schlang die Arme um seinen Leib und kuschelte sich unter den Mantel. „Aber Ihr habt mich gefunden und daraus befreit.“
„Natürlich, der Fürst trug mir auf, auf dich Acht zu geben“, erwiderte Valerius ruhig.
„Weil er es nicht will?“
„Dein Vater liebt dich, du bist sein einziger Sohn. Nur kann er das nicht immer so zeigen.“
„Das ist aber eine himmelschreiende Untertreibung. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin ihm lästig. Warum könnt nicht Ihr mein Vater sein?“
„Ach, Aidan …“ Valerius seufzte. „Lassen wir das Thema für heute ruhen und kehren ins Schloss zurück. Ich muss mir deine Wunde anschauen und dich mit ein paar Kräutern versorgen.“
„Ich möchte nicht zurück. Mein Vater wird wieder ein Gastmahl abhalten, es wird laut sein und seine Männer und er werden sich mit Wein betrinken. Ich möchte hierbleiben. Erzählt mir etwas, eine Geschichte über die alten Götter.“ Das Flehen in der Stimme des Jungen, die Hoffnung in seinen blauen Augen, ließen das Herz des Animagus schwer werden.
So schlang er den Mantel enger um sie und begann, Legenden über die funkelnden Sternbilder zu erzählen, bis der Junge friedlich in seinen Armen eingeschlafen war.
Mit den ersten Sonnenstrahlen machten Valerius und Aidan sich wieder auf den Rückweg. Sie verließen die Lichtung und folgten einem Wildwechsel, der sie wieder auf den Weg zum Herrschersitz brachte. Schweigend liefen sie nebeneinander her und genossen die friedliche morgendliche Stimmung. Die Vögel sangen, begrüßten den neuen Tag, die kühle Luft roch klar und frisch. Sie begegneten einem Hirsch, der am Rand des Weges äste. Als er sie bemerkte, hob er den Kopf und witterte in ihre Richtung. Einen Augenblick später war er im dichten Grün verschwunden.
Bald darauf erreichten sie den Fürstensitz. Die Wachen grüßten sie freundlich und die Mägde und Diener gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach. Doch als sie die Haupthalle betraten, bot sich ihnen ein Bild der Zerstörung. Zerbrochene Krüge und Essensreste lagen verstreut auf dem Boden und den hölzernen Tischen, Weinlachen hatten sich auf dem Boden ausgebreitet. Der Gestank nach kaltem Essen, Alkohol und menschlichen Ausdünstungen hing in der Luft. Valerius rümpfte die Nase und öffnete die großen Fenster des Saals, sodass frische Luft hereinströmen konnte. Den Arm um Aidans Schulter gelegt, brachte er ihn in seine Kammer, die gleich neben der Bibliothek im abgelegenen Nordflügel lag.
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